"Die Polen haben vergessen, dass wir hier eine Pandemie haben"

Kein Abstand bei der Wahlwerbung von Präsident Andrzej Duda
Nach der Lockerung der Corona-Maßnahmen steigen die Infizierten-Zahlen wieder - nicht nur in den Kohle-Zechen Oberschlesiens.

„Wir werden wohl wieder Einschränkungen einführen. Die Polen haben vergessen, dass wir hier eine Epidemie haben.“ Mit diesen Worten versetzte am Dienstag der polnischen Gesundheitsminister Lukasz Szumowski der Lockerungslaune seiner Landsleute einen Dämpfer.

Obwohl in Polen weiterhin Maskenpflicht in den Geschäften herrscht, sind viele Menschen ohne Gesichtsschutz unterwegs, halten keinen Abstand , es herrscht eine Stimmung, als ob das Schlimmste der Covid-19-Krise überstanden sei. Doch seit Tagen steigen in Polen die Fallzahlen, am Wochenende und Montag wurde der Rekordwert von 599 Neu-Infizierten gemessen. Szumowski erklärt dies auch mit der Region Schlesien – die 50.000 Tests, die im Bergbau umgesetzt wurden, hätten die hohen Zahlen bewirkt.

"Die Polen haben vergessen, dass wir hier eine Pandemie haben"

Viele neue Fälle in Polens Kohlegruben

Seit Dienstag sind im oberschlesischen Kohlerevier 12 Gruben für drei Wochen geschlossen, bereits 5.200 Kumpel wurden angesteckt. Doch auch in anderen Regionen Polens ist es letztens zu Ausbrüchen gekommen. Der in den Zechen war seit Anfang Mai bekannt, die Schließung hatte die Regierung lange verschleppt. Wohl, um die Erfolgsbilanz der bisherigen Krisenpolitik nicht zu trüben.

In dem Land mit 40 Millionen sind bislang über 27.000 Infektionen festgestellt worden, 1.172 Tote sind zu beklagen. Nach einem harten Lockdown von Mitte März bis Ende April wurden im Laufe des Mai viele Maßnahmen aufgehoben, um die Wirtschaft wieder „aufzutauen“, wie es Regierungschef Mateusz Morawiecki erklärte, der kürzlich in einem eng besetzten Restaurant ohne Abstand zu seinen Mitgästen speiste. Selbst Fußballstadionbesuche sollen bald wieder möglich sein. Allein Diskotheken und höhere Schulstufen sind geschlossen.

Wahl wieder fraglich?

Maria Ganczak, Epidemiologie-Professorin der Universität Stettin (Szczecin) warnt, dass die Zahlen der Neu-Infektionen seit neun Wochen in etwa gleich blieben und nicht abfallen wie in anderen europäischen Ländern. Zudem sei das Land mit 28.300 Tests pro einer Million Einwohner auf dem 19. Platz der 27 EU-Mitglieder, somit sei das Ausmaß der Virusverbreitung unklar. Und auch Szumowski wandte sich darum an Staatspräsident Andrzej Duda und andere Kandidaten der Präsidentschaftswahl, ihre Anhänger zu verpflichten, bei Versammlungen Masken zu tragen.

Am 28. Juni wird die vom 10. Mai verschobene Präsidentenwahl nachgeholt. Bislang führt der von der Regierungspartei PiS unterstützte Amtsinhaber Andrzej Duda in den Umfragen, doch der liberale Gegenkandidat Rafal Trzaskowski holt zunehmend auf. Fraglich ist, ob der Wahltermin hält: Nach Angaben des Gesundheitsministeriums soll die Anzahl der Infizierten diese Woche weiterhin steigen. Die starke Lockerungspolitik der Regierung könnte sich nun als Eigentor herausstellen.

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