Machtkampf: Chinas Präsident hat das eigene Militär im Visier

Li Shangfus Auftritt war als Zeichen des neuen Selbstbewusstseins gedeutet worden. „Manche Länder“, erklärte Chinas damaliger Verteidigungsminister im Juni auf der asiatischen Sicherheitskonferenz in Singapur, „erhöhen mit ihrer Mentalität des Kalten Krieges die Gefahr einer militärischen Eskalation.“ Die unverkennbar an die USA gerichtete Ansprache ließ US-Verteidigungsminister Lloyd Austin noch auf der Konferenz ein Vieraugengespräch einfordern, doch der stolze Chinese lehnte ab.

Chinas ehemaliger Verteidigungsminister Li Shangfu verschwand Ende August aus der Öffentlichkeit. Erst im Oktober erklärte Chinas Regierung, dass er abgesetzt wurde.
Eine weitere Möglichkeit sollte sich nie ergeben. Heute ist Li Shangfu nicht nur nicht mehr im Amt – er ist grundsätzlich seit dem 29. August aus der Öffentlichkeit verschwunden. Zwei Monate lang schwiegen chinesische Offizielle zum Fehlen des Verteidigungsministers, erst Ende Oktober wurde er ohne Angabe von Gründen per Dekret aus dem Amt entfernt. Ein Nachfolger fehlt bis heute.
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Li ist nicht der erste chinesische Minister, der in diesem Jahr spurlos verschwand – auch Ex-Außenminister Qin Gang, erst im Dezember 2022 angelobt, fand unter gleichen Umständen sein plötzliches Karriereende. Beide Fälle zeigen, wie schnell Machthaber Xi Jinping im zunehmend autokratischen China jene aus dem Weg räumen kann, die bei ihm in Ungnade fallen.
Li Shangfus Schicksal lässt sich aber gleichzeitig als bisheriger Höhepunkt eines Konflikts zwischen dem Präsidenten und seiner militärischen Führung deuten. Nur wenige Tage vor seinem Verschwinden fand eine Razzia der mächtigen Anti-Korruptionsbehörde in der Kommandozentrale des Raketenkommandos statt, zwei führende Generäle sitzen seither in Haft.
Zwar hat die Volksbefreiungsarmee seit jeher den Ruf, von Korruption durchzogen zu sein, doch noch stärker ist der Ruf der Anti-Korruptionsbehörde als Machtinstrument der kommunistischen Partei – und damit des Parteivorsitzenden persönlich.
Xi spricht davon, dass Chinas Militär von der "Friedenskrankheit" befallen sei
In den zehn Jahren seiner Herrschaft hat Xi immer wieder Kritik am Zustand der Volksbefreiungsarmee geäußert – am Personal wohlgemerkt, nicht an der Ausstattung. Schonungslos prägte er den Begriff der „zwei Unzulänglichkeiten“: Chinesische Soldaten seien nicht fähig, in einem modernen Krieg zu kämpfen, die Generäle könnten dagegen keine modernen Befehlsstrukturen etablieren.
Tatsächlich hat das chinesische Militär trotz eines gewaltigen Budgets und immer fortschrittlicherer Technologie seit Jahrzehnten keinerlei Kampferfahrung vorzuweisen. Der letzte Krieg, an dem chinesische Soldaten teilnahmen, war die gescheiterte Invasion in Vietnam 1979.
Die letzten Chinesen, die im Kampfeinsatz starben, kamen 2020 bei einer Gewalteskalation an der Grenze zu Indien um – dabei kamen aber nur Fäuste zu Einsatz. Xi, dessen Vater im chinesischen Bürgerkrieg als General diente, spricht deshalb sogar davon, chinesische Rekruten würden unter der „Friedenskrankheit“ leiden.
Das größte Problem der Volksbefreiungsarmee ist laut internationalen Experten dagegen der Mangel an gebildetem Personal. Zu lange war es im Land der Einzelkinder – eine Folge der Ein-Kind-Politik – üblich, dass gebildete Eltern in den Städten alles versuchten, um ihre Kinder vom Militär fernzuhalten. Seit Jahrzehnten füllen sich die Ränge somit mit Männern aus bildungsfernen, ländlichen Provinzen.
Leakten chinesische Generäle Taiwan-Invasionspläne an die USA?
Glaubt man Gerüchten aus Taiwan und den USA, so wollte auch das Raketenkommando an den Friedenszeiten festhalten. Weil die chinesischen Generäle eine Invasion der Insel für zu verlustreich hielten, sollen sie ausgearbeitete Angriffsstrategien über Mittelsmänner dem US-Geheimdienst zugespielt haben. Ein Vergehen, für das auch Li Shangfu als verantwortlicher Minister gebüßt haben soll.
Die „Wiedervereinigung“ mit Taiwan hat Xi Jinping zum obersten Ziel seiner Herrschaft erklärt, ein anderes hängt eng damit zusammen: Bis 2035 soll Chinas Militär bereit sein für einen modernen Krieg. Angesichts der angespannten Beziehung zu den USA scheint er diesen für unausweichlich zu halten.
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Damit es vorher nicht zur Eskalation kommt, einigte sich Xi gemeinsam mit US-Präsident Joe Biden darauf, wieder dauerhaft „militärische Kommunikationskanäle auf höchster Ebene“ zu etablieren. Auf US-Seite ist diese Ebene Verteidigungsminister Lloyd Austin; auf chinesischer ist sie bis auf Weiteres Chefsache.
Weltgrößte Armee
Knapp zwei Millionen Soldaten stellt die Volksbefreiungsarmee – damit ist sie die größte weltweit. Neben rund 700.000 Rekruten zählen dazu ca. 850.000 Unteroffiziere sowie 450.000 Offiziere. Informationen zu Milizsoldaten variieren
Technologie
Lange kaufte China sein Militärgerät aus Russland ein, heute stellt es viel selbst her – von Kampfjets (J-20) bis hin zu Flugzeugträgern
292 Mrd. US-Dollar beträgt das Verteidigungsbudget Chinas 2023, doppelt so viel wie noch 2015. Nur die USA geben mehr für ihr Militär aus – mit knapp 877 Mrd. Dollar aber fast dreimal so viel
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