Brexit: Tusk will EU-Sondergipfel im September

Tusk kündigt tiefe Reflexionen ohne die Briten an. Juncker nennt Farage im EU Parlament einen Lügner.

Der Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk will angesichts der Entwicklungen rund um den Brexit einen Sondergipfel zur Zukunft der EU im September - ohne die Briten.

Er kündigte für Mittwoch "tiefe Reflexionen" der 27 anderen EU-Staaten zur Zukunft Europas an. Er wolle dazu ein Sondertreffen des EU-Gipfels im September vorschlagen, sagte er. Der beste Platz dafür wäre Bratislava, nachdem die Slowakei im zweiten Halbjahr die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Tusk brachte seine persönliche Enttäuschung über das Brexit-Votum der Briten zum Ausdruck. "Am Tag danach habe ich mich gefühlt, als ob jemand, der mir sehr nahe steht, das Haus verlassen hat." Tusk: "Aber was geschehen ist, ist geschehen."

Briten am Zug

Tusk hat vor dem EU-Gipfel zu den Brexit-Beratungen in Brüssel klargestellt, dass die EU auf einen Austrittsantrag des Vereinigten Königreichs warten muss. Man müsse die EU-Verträge respektieren, sagte Tusk am Dienstag in Brüssel. Demnach müsse die britische Regierung einen EU-Austritt initiieren, "das ist der einzig legale Weg, den wir haben".

Der britische Premier David Cameron will den Austritt seines Landes aus der EU "so konstruktiv wie möglich" gestalten. Vor Beginn des EU-Gipfels in Brüssel sagte Cameron am Dienstag, er hoffe, dass der Ausgang der Verhandlungen ebenso konstruktiv werde.

"Wir verlassen die EU, aber wir drehen ihr nicht den Rücken zu." Die Länder der EU seien "Nachbarn, Freunde, Partner. Es geht um die engstmöglichen Beziehungen bei Handel, Sicherheit und Zusammenarbeit". Dies wäre "gut für uns und Sie", so Cameron.

Jean Claude Juncker will so bald wie möglich Klarheit, wie es mit den Briten weitergeht. Gleichzeitig hat Juncker hat seiner Behörde nach eigenen Angaben jegliche Vorverhandlungen mit der britischen Seite über einen EU-Austritt verboten. „Solange es keine Notifizierung gibt, gibt es auch keine Verhandlungen“, sagt Juncker imEU-Parlament mit Blick auf die Aktivierung von Artikel 50 der EU-Verträge, die von Großbritannien ausgehen müsste. Das Vereinigte Königreich müsse seine Position klären. „Nicht heute, nicht morgen früh, aber doch recht schnell.“

Juncker erklärte in einer kämpferischen Rede bei der Sondersitzung des Europaparlaments in Brüssel zu den Brexit-Folgen, mit dem Austritt Großbritanniens sei zwar "ein Flügel verloren", aber "unser Flug hält an. Es ist kein Flug ins Ungewisse, sondern zu einem vorher in den Verträgen festgelegten Ziel".

Juncker zu Farage: "Sie haben gelogen!"

Dem Führer der Brexit-Kampagne und britischen Europaparlamentarier Nigel Farage warf Juncker Lügen vor. Bei der Sondersitzung des EU-Parlaments zu den Brexit-Folgen sagte Juncker unter Hinweis auf Budgetaussagen von Farage, "Sie haben gelogen." Man dürfe eine "Nation nicht den Nationalisten überlassen."

Juncker: "Man muss die Nationen respektieren, aber nicht die Nationalisten. Das sind keine Patrioten, das sind Nicht-Europäer." Die EU werde sicher die richtigen Lehren aus der Brexit-Abstimmung ziehen, aber "man sollte nicht den Eindruck erwecken, dass es ein Europa der Sparpolitik gibt. Die Briten haben nicht über die Sparpolitik abgestimmt, auch nicht über unzureichende Grenzkontrollen. Die Briten haben keinen Euro. Die ganzen Euro-Probleme betreffen die Briten nicht. Großbritannien ist nicht in der Schengenzone und bewacht bereits selbst seine Grenzen. Man sollte nichts durcheinanderwerfen, aber solche Geschichten erzählt Farage", kritisierte der Kommissionspräsident.

Brexit: Tusk will EU-Sondergipfel im September
UK Independence Party (UKIP) leader Nigel Farage (L) talks with EU Commission President Jean-Claude Juncker before a plenary session at the EU headquarters in Brussels on June 28, 2016. European Commission chief Jean-Claude Juncker called on June 28 on Prime Minister David Cameron to clarify quickly when Britain intends to leave the EU, saying there can be no negotiation on future ties before London formally applies to exit. / AFP PHOTO / JOHN THYS

Juncker sprach übrigens nur Deutsch und Französisch. Nur an den rechtspopulistischen Brexit-Wortführer Nigel Farage wandte er sich in Englisch: „Ich bin überrascht, dass Sie hier sind. Sie haben für den Austritt gekämpft, die Bürger haben dafür gestimmt“, sagte Juncker. „Warum sind Sie hier?“

Farrage hatte zuvor - unterbrochen von Zwischenrufen anderer EU-Abgeordneter - ebenso wie die französische Abgeordnete der rechtsextremen Front National, Marie Le Pen, über den Patriotismus der Briten gejubelt. Farage prophezeite, Großbritannien werde nicht das letzte Land bleiben, das die EU verlasse. Auf Handelsbeziehungen mit der EU will er aber nicht verzichten. Im Europaparlament warb er für ein Freihandelsabkommen. „Wir werden mit Euch Handel treiben, wir werden mit Euch kooperieren“, sagte der EU-Abgeordnete. „Wir werden Euer bester Freund auf der Welt sein.“ Farage schickte aber eine Warnung hinterher: Sollte es eine solche Vereinbarung nicht geben, wären die Konsequenzen für die EU viel schlimmer als für sein Land.

Auch Forderungen, wonach sich die EU ändern müsse, relativierte Juncker. "Nein, wir werden den Weg der Modernisierung Europas weiter beschreiten, den wir mit Zustimmung des EU-Parlaments begonnen haben. Alle sagen, es muss was geändert werden, ohne zu sagen was. Es wird nicht das Wesentliche geändert. Das ist das Europa als Friedensprojekt und als Zukunftsprojekt, das bleibt".

"Wir bestimmen die Tagesordnung, nicht die, die die EU verlassen"

Der Kommissionspräsident verwies gleichzeitig darauf, dass "wir mit Großbritannien eine neue Beziehung herbeiführen müssen". Allerdings "hängt das nicht von irgendwelchen Geheimverhandlungen mit britischen Unterhändlern ab, sondern auch von uns. Wir bestimmen die Tagesordnung, nicht die, die die EU verlassen", wetterte Juncker.

Jedenfalls "geht der EU-Traum weiter". Daran werde beharrlich und konsequent zu arbeiten sein, mit erneuerter Energie, mit digitalem Binnenmarkt und mit der Wiederbelebung kontinentaler Ambition. "Es ist jetzt nicht die Stunde der Nabelschau, weder für uns noch für die Briten. Aber wir brauchen den Blick auf den gesamten kontinentalen Körper". Er als "altmodischer Veteran" habe die Geburtsstunde Europas erlebt, "das ist nicht vergessen. Europa bleibt das Friedensprojekt. Und in Großbritannien hat sich eine Mehrheit der Jungen für den Verbleib in der EU ausgesprochen, die wollen nicht, dass die Stunde der Wiederzerstückelung des Kontinents gekommen ist". Juncker: "Die Zukunft gehört der Jugend Europas".

Nach dem Brexit-Votum fordert das EU-Parlament schnelle Verhandlungen über einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Die Abgeordneten verabschiedeten am Dienstag in Brüssel bei einer Sondersitzung eine entsprechende Resolution. „Wir erwarten zügige Verhandlungen“, sagte der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, vor der Abstimmung im Plenum. „Für beide Seiten ist eine lange Phase der Unsicherheit Gift.“ Die vier großen Fraktion im Parlament - EVP, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne - hatten den Antrag gemeinsam gestellt.

Exit vom Brexit?

Der britische Europastaatsminister David Lidington hat ein zweites Referendum zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ausgeschlossen. "Ich denke nicht, dass das korrekt wäre", sagte Lidington zu entsprechenden Forderungen in einem am Dienstag veröffentlichten Interview mit der polnischen Zeitung "Rzeczpospolita".

"In einer Demokratie muss man Wahlergebnisse respektieren und sich ihnen unterwerfen", fügte der konservative Politiker hinzu. Die Briten hatten am Donnerstag mit einer knappen Mehrheit von 52 Prozent für den Brexit gestimmt. Lidington hob in dem Interview hervor, dass die Wahlbeteiligung mit 72 Prozent sehr hoch gewesen sei und die der vorherigen Parlamentswahl übertroffen habe.

Nach dem Referendum wurde eine Petition für ein zweites Referendum in Großbritannien gestartet, die bereits Millionen Unterschriften erhielt. Am Montag hatte auch der Chef der polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Jaroslaw Kaczynski, dieses Ansinnen unterstützt. "Unser Konzept für heute, nicht für die Zukunft, sieht Bemühungen vor, damit Großbritannien in die Union zurückkehrt, damit es ein zweites Referendum gibt", sagte Kaczynski nach Angaben der polnischen Nachrichtenagentur PAP.

Ein zweites Referendum befürwortet auch der britische Gesundheitsminister Jeremy Hunt - allerdings nicht über einen Verbleib seines Landes in der EU, sondern über die Austrittsbedingungen. "Großbritannien muss und wird die EU verlassen", schrieb Hunt in einem Beitrag für den "Daily Telegraph" vom Dienstag.

Die Briten müssen sich nach dem Brexit-Votum auf Steuererhöhungen und Einschränkungen bei den staatlichen Leistungen einstellen. Finanzminister George Osborne kündigte am Dienstag an, die Regierung werde einschneidende Schritte zur Sicherung der Finanzstabilität ergreifen müssen, um die Folgen des Votums für den EU-Austritt zu bewältigen.

Steuererhöhungen? "Ja, absolut"

Auf eine Frage, ob das auch Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen einschließe, antwortete er im BBC-Radio: "Ja, absolut".

Brexit: Tusk will EU-Sondergipfel im September
British Chancellor of the Exchequer George Osborne leaves after making a statement at the Treasury in London on June 27, 2016, following the pro-Brexit outcome of the June 23 EU referendum. Britain should only trigger Article 50 to leave the EU when it has a "clear view" of how its future in the bloc looks, finance minister George Osborne said Monday following last week's shock referendum. London stocks sank more than 0.8 percent in opening deals on Monday, despite attempts by finance minister George Osborne to calm jitters after last week's shock Brexit vote. / AFP PHOTO / POOL / Stefan Rousseau

"Wir müssen dem Land und der Welt zeigen, dass die Regierung in der Lage ist, im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten zu handeln", sagte Osborne. Es sei eine zentrale Herausforderung, nach der Brexit-Entscheidung Finanzstabilität zu bewahren. "Wir befinden uns in einer längeren Phase der Anpassungen im Vereinigten Königreich", sagte er. Das Leben für sein Land außerhalb der Union werde nicht so rosig sein wie das als ihr Mitglied. Es müsse nun vor allem darum gehe, die Phase der Zurückhaltung bei Investitionen und Neueinstellungen in Großbritannien so kurz wie möglich zu halten. Unrealistisch sei es, sich nach dem EU-Austritt nur die Vorteile einer Mitgliedschaft in der Union zu sichern, ohne die Nachteile und Kosten tragen zu müssen.

Herabstufung auf AA

Die Ratingagentur S&P hatte Großbritannien nach dem Brexit-Referendum die Bestnote entzogen. Die langfristigen Verbindlichkeiten wurden um zwei Stufen auf "AA" zurückgestuft. Die Ratingagentur Fitch stufte das Land um eine Stufe auf ebenfalls "AA" herunter. Beide Bonitätswächter bewerten den Ausblick negativ. Ein niedrigeres Rating kann höhere Kosten bei der Schuldenaufnahme zur Folge haben.

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