Wilde Jagd auf Bomber aus Tschetschenien

Ein mutmaßlicher Attentäter und ein Polizist starben bei Feuergefecht. Der Bruder flüchtete.

Boston im Ausnahmezustand: Die Bewohner der Vorstadt Watertown wurden angewiesen, in ihren Häusern zu bleiben. Türen und Fenster seien geschlossen zu halten. Einer der beiden mutmaßlichen Bombenleger war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Der zweite war auf der Flucht – und die Polizei rechnete mit dem Schlimmsten. Stundenlang spielte der 19-jährige Dschochar Zarnajew aus Tschetschenien mit seinen Verfolgern Katz und Maus.

Die Brüder waren 2002 mit ihren Eltern nach Kasachstan geflohen und dann in die USA gekommen. Sie hielten sich legal im Land auf. Über ihre Motive ist noch nichts bekannt. Aus Sicherheitskreisen hieß es aber, man tendiere zu einem islamistischen Hintergrund. Dschochar Zarnajew hatte im Internet Links zu islamistischen Websites gesetzt.

Ansor Zarnajew, der sich in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala als Vater des Brüderpaares ausgab, bezeichnete seine Söhne als „strenggläubige Muslime“. US-Geheimdienste hätten sie in eine Falle gelockt. Dem widerspricht ein angeblicher Onkel. „Sie haben es nicht geschafft, sich ein Leben aufzubauen, und hassten deshalb alle anderen“, so Ruslan Tsarni. Zudem müsse jemand die Burschen radikalisiert haben.

Boston glich in der Nacht auf Freitag und in der Früh einer Geisterstadt. Die Straßen waren leer; wer konnte, blieb zu Hause, der Luftraum war gesperrt. Der Vorort Watertown glich dafür einem Kriegsschauplatz mit schwerst bewaffneter Polizei und Panzerfahrzeugen. Als in der Nacht bekannt wurde, dass zwei Brüder aus Tschetschenien die Bombenleger an der Ziellinie des Boston-Marathons sein sollten, bei dem am Montag drei Menschen ums Leben kamen und fast 176 verletzt wurden, richteten sich alle TV-Kameras auf die „ongoing Story“ und übertrugen live.

Schüsse auf Campus

Nach derzeitigem Stand lief der Donnerstagabend ab 22.30 Uhr Ortszeit wie folgt ab: In einem Mini-Markt auf dem Campus des weltberühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT) kam es zu einem Zwischenfall, zu dem es zunächst aber noch keine näheren Informationen gab. Dann fielen Schüsse auf dem Campus in der Nähe des Stata-Gebäudes, wo sich die Computerräume für Informatik-Studenten befinden und die Institute für Sprachwissenschaft und Philosophie. Dabei wurde ein Polizist erschossen, ein zweiter schwer verletzt. Um 22.48 Uhr gab das MIT die erste Warnung an die rund 11.000 Studenten aus: Der Tatort sei abgesperrt, alle seien aufgefordert sich fernzuhalten: „Bitte bleiben Sie außerhalb dieses Areals“. Und: „Bitte bleiben Sie in geschlossenen Räumen“.

Die Täter überwältigten, wie später bekannt wurde, einen Autofahrer und nahmen ihn als Geisel. Eine halbe Stunde später wurde die Geisel an einer Tankstelle in Cambridge freigelassen. Die Polizei hatte inzwischen zu einer der massivsten Mobilisierungen seit Jahren aufgerufen, fast 9000 Beamte sind im Einsatz.

Explosionen

Dann wurden erste Berichte über weitere Schüsse und Explosionen aus dem etwa acht Kilometer entfernten Watertown, einer beschauliche gutbürgerliche Wohnsiedlung, bekannt. Die beiden Tschetschenen warfen Sprengsätze aus dem Auto und feuerten wild um sich. Bei dem Schusswechsel wurde der 26-jährige Tamerlan Zarnajew angeschossen und schwerst verletzt. Später sagte ein Arzt des Beth Israel Deaconess Medical Centers, die Zahl der Einschüsse „sei nicht zu zählen gewesen“. Der mutmaßliche Islamist starb in einem jüdischen Krankenhaus. Neben den Schusswunden habe er aber auch Verletzungen und Verbrennungen gehabt, die vermutlich von einem Sprengsatz herrührten, hieß es.

Der 19-jährige Dschochar Zarnajew konnte flüchten. Die Polizei ging davon aus, dass er einen Bombengürtel trug und schwer bewaffnet war. Die Bewohner von Watertown wurden aufgefordert, in ihren Häusern zu bleiben: „Bitte schließen Sie die Tür ab und öffnen Sie nur Menschen, die sich eindeutig als Polizisten identifiziert haben“, sagte Gouverneur Deval Patrick. „Bitte bleiben Sie geduldig und arbeiten Sie mit uns zusammen“, rief ein Polizist die Bürger auf. Die Situation sei sehr ernst, und jeder solle sie so behandeln. „Bitte befolgen Sie die einfachen Regeln. Wir brauchen die Öffentlichkeit, bleiben Sie in Sicherheit.“ Die Gegend wurde großräumig abgesperrt.

Ausgangssperre

Die Beamten begannen, Haus für Haus zu durchkämmen. Später wurde die Ausgangssperre auch auf den Nordwesten von Boston ausgeweitet.

Die Polizei rief die Fernsehteams auf, ihre Arbeit nicht zu erschweren. „Gefährden Sie nicht die Sicherheit der Beamten, indem Sie taktische Positionen der durchsuchten Häuser im Fernsehen zeigen“, hieß es im Morgengrauen per Twitter.

Pendler an Busstationen, die sich Freitag in der Früh um sechs auf den Weg zur Arbeit machen wollten, wurden nach Hause geschickt. Schulen und Geschäfte blieben geschlossen. Später wurde dann im gesamten Großraum Boston der Nahverkehr eingestellt. Alle Bürger wurden aufgefordert, zu Hause zu bleiben.

US-Präsident Barack Obama wurde ständig von einem Anti-Terror-Experten über die Ereignisse auf dem Laufenden gehalten. Der Einsatz gestern, Freitag, war eine der größten Polizeiaktionen seit dem 11. September 2001.

Bei der Fahndung nach Dschochar Zarnajew fuhr auch die Nationalgarde mit Panzerwagen in Tarnfarben Patrouille. Die Angst ging um, dass der Mann mit der weißen Kappe Geiseln nehmen oder sich in einer Wohnung verschanzen könnte. „Wir gehen davon aus, dass es sich um einen Mann handelt, der gekommen ist, um zu töten“, warnte Bostons Polizeichef Ed Davis. „Unsere erste Sorge ist die Sicherheit der Menschen“, sagte Polizeioffizier Timothy Alben. Doch der „Verdächtige Nummer zwei“ war auch bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht gefasst.

Die Schauplätze in und rund um Boston

Bilder der Verdächtigen

Wilde Jagd auf Bomber aus Tschetschenien

Suspect wanted for questioning in relation to the
Wilde Jagd auf Bomber aus Tschetschenien

Suspect wanted for questioning in relation to the
Wilde Jagd auf Bomber aus Tschetschenien

A photo of a suspect in the Boston Marathon bombin
Wilde Jagd auf Bomber aus Tschetschenien

Suspects wanted for questioning in relation to the
Wilde Jagd auf Bomber aus Tschetschenien

Suspect wanted for questioning in relation to the

Gesundheitsminister Alois Stöger befindet sich wegen einer Dienstreise in Boston – gestern war er noch in der nun gesperrten Universität Harvard als Redner zu Gast, heute sitzt er aufgrund der aktuellen Ereignisse in seinem Hotel fest: „Ich bin in Boston am Hafen in einem Hotel - und in Sicherheit“, so Stöger am Telefon zum KURIER. Er sei bestens über die Lage informiert - seine Delegation brauche keinen speziellen Schutz, der Generalkonsul begleite sie.

Über die Lage vor Ort meint er, die Stadt sei „sehr ruhig, weil so viele Straßen abgeriegelt sind. Wir wissen nicht, ob wir derzeit das Hotel verlassen könnten. Aber derzeit sind alle Termine verschoben oder abgesagt, weil es kein Weiterkommen gibt, daher stellt sich die Frage gar nicht.“ Man warte jetzt noch.

Stöger ist seit Dienstag spätabends in Boston – die Stimmung bei allen Gesprächspartnern sei sehr betroffen, meint er – „niemand konnte sich vorstellen, dass bei einer friedlichen Veranstaltung so ein Bombenanschlag stattfinden konnte. Es war gestern auch US-Präsident Obama in Boston, es wird versucht damit normal umzugehen. Gestern Abend und heute früh ist die Stimmung besonders nervös, die Polizei steht unter großem Druck.“ Die Nervosität sei sehr hoch, die Menschen besorgt, und es werde überall über die Bombenanschläge diskutiert.

Die tschetschenischen Behörden waren äußerst bemüht, möglichst rasch eine Verbindung der mutmaßlichen Attentäter von Boston in die Kaukasusrepublik zurückzuweisen. „Die Personen, die in Boston des Verbrechens beschuldigt werden, haben zu Tschetschenien keinerlei Beziehung“, so Alwi Karimow, Sprecher des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow. Die beiden Brüder Tamerlan und Dschochar Zarnajew hätten die Region bereits im Kindesalter verlassen.

Der Direktor der „Schule Nr. 1“ in Machatkala in der benachbarten Region Dagestan sagte, die Familie sei 2002 ausgereist. An die beiden Brüder könne er sich noch erinnern. Seitens des dagestanischen Innenministeriums hieß es am Freitag, dass man keinerlei Aufzeichnungen über Straftaten der Familie habe.

Motive unbekannt

Daraus ergibt sich eine Familiengeschichte, wie es Tausende gibt in der kriegsgeschüttelten Region: Erst die Flucht vor den Kriegswirren nach Dagestan, danach die Ausreise in die zentralasiatische Republik Kasachstan, wo viele von Stalin deportierte Tschetschenen bis Ende der 80er-Jahre gelebt hatten. Dann die Ausreise in die USA.

Die Motive der beiden mutmaßlichen Attentäter scheinen unbekannt, auch wenn ein islamistischer Hintergrund vermutet wird. Ebenso, ob es Hintermänner gab. Auch, ob das Duo mit einer tschetschenischen oder nicht tschetschenischen Organisation zusammengearbeitet hat.

Klar ist: Auch wenn der Krieg in der Kaukasusrepublik Tschetschenien faktisch beendet ist, Untergrundbewegungen sind nach wie vor in der Region aktiv – vermehrt jedoch in den Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien. Und sie verfolgen eine zunehmend radikal islamische Agenda, die sich am internationalen dschihaddistischen Mainstream orientiert und eine zunehmend pan-kaukasische Ausrichtung gegen Russland verfolgt. Stichwort: Das Kaukasische Emirat Doku Umarows, eine Organisation, der Verbindungen zu El Kaida nachgesagt wird. Zugleich existiert aber auch der nationalistische Flügel in der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung, der aber kaum noch militärisch aktiv ist. Nicht zuletzt, da seine Anführer zu einem großen Teil ins Ausland geflohen sind.

Klar ist aber auch: Was die Wahl ihrer Ziele anging, so hatten kaukasische Extremisten mit Verbindungen zu islamistischen Untergrundgruppen wie dem Kaukasischen Emirat eigentlich ausschließlich Russland im Visier. Wobei sie dabei nie zimperlich waren.

Aktivitäten tschetschenischer Extremisten im Ausland sind zwar dokumentiert, jedoch eher selten. Und wenn es um Attentate oder Pläne dafür ging, so handelte es sich erwiesenermaßen um Einzeltäter oder Individuen, die sich Organisationen angeschlossen hatten, die mit der tschetschenischen Sache an sich nichts am Hut hatten.

Einsätze in Syrien

Nur zuletzt wurde eine Beteiligung tschetschenischer Kämpfer im Bürgerkrieg in Syrien bemerkt. Zuvor gab es immer wieder sporadische Meldungen über Tschetschenen, die in Afghanistan oder in Somalia kämpften.

Was das Brüderpaar von Boston angeht, so kann man schon aus der Familiengeschichte schließen, dass sie wohl kaum schon im Kaukasus radikalisiert worden waren. Dass sie, wie berichtet, die Internetseiten kaukasischer Islamistengruppen verfolgten, ist zudem ein nur äußerst magerer Hinweis auf ihr Motiv. Und nur, dass es sich um Tschetschenen handelt, kann wohl kaum ein ausreichender Hinweis darauf sein, was im Kopf dieser jungen Männer vorgegangen ist.

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