Momentan sterben pro Tag nirgendwo auf der Welt mehr Menschen an Covid-19 als in Brasilien (rund 1.000 pro Tag), die Gesamtzahl wird demnächst auf 30.000 steigen. Und im globalen Ranking ist das Land am Zuckerhut mit fast einer halben Million Infizierten nach den USA an zweiter Stelle. Der emeritierte Vorarlberger Bischof Erwin Kräutler, 81, der seit 55 Jahren in Amazonien lebt und dort wirkt, macht für diese Misere einen Mann verantwortlich: Präsident Jair Bolsonaro. Im KURIER-Gespräch erhebt er schwere Vorwürfe gegen den Rechtspopulisten.
KURIER:Der Staatschef spielte die Pandemie von Anfang an herunter, kritisiert Lockdown-Maßnahmen der Gouverneure und nimmt weiterhin Bäder in der Menge seiner Fans. Wie beurteilen Sie sein Corona- Krisen-Management?
Bischof Erwin Kräutler: Er legt ein menschenverachtendes Verhalten an den Tag und nimmt Zehntausende Tote in Kauf. Zwar trägt er jetzt fallweise Mund- und Nasenschutz, doch zugleich gibt er jedem die Hand, der sich ihm nähert. Er hört nicht auf Fachleute in Medizin und Wissenschaft und glaubt, alles besser zu wissen. Er fühlt sich als medizinischer Fachmann, obwohl er nur über die Ausbildung eines Turnlehrers verfügt. Aber primär ist es ihm wichtig, im Rampenlicht zu stehen. Von seinen Ministern verlangt er totale Unterwürfigkeit. Bereits zwei Gesundheitsminister (die anderer Meinung als Bolsonaro waren und hohe Popularitätswerte hatten, Anm.) fielen seiner pubertären Eifersucht zum Opfer.
Bolsonaro wird auch eine starke Affinität zu den Generälen vorgeworfen. Droht eine Rückkehr zur Diktatur?
Unsere Bischofskonferenz warnt seit Monaten ganz unmissverständlich vor einer Rückkehr zur Diktatur. Als Präsident Brasiliens möchte er wie ein Alleinherrscher regieren und wähnt sich über der Bundesverfassung. Das Prinzip der Gewaltenteilung im Staat scheint für ihn nicht zu existieren. Bolsonaro fühlt sich gleichzeitig als Exekutive, Legislative und oberster Richter der Nation. Die Allüren und Manien Bolsonaros erinnern tatsächlich an Diktatoren noch nicht lange vergangener Zeiten.
Hat er da Vorbilder?
Ja, eines ist der 2015 verstorbene Oberst Carlos Alberto Brilhante Ustra, der gefürchtetste Folterspezialist während der Militärdiktatur (1964-1985), der nicht einmal davor zurückschreckte, Frauen vor ihren eigenen Kindern auf perverseste Weise zu misshandeln. Man fragt sich heute immer mehr, wie ist es dazu gekommen, dass ein Mann mit einer horrenden Vorgeschichte eklatanter Rassen- und Frauendiskriminierung und Homophobie an die Staatsspitze gelangen konnte. Wir erwarten längst die Einleitung seiner Absetzung durch den Kongress.
Wie schaut denn Bolsonaros aktuelle Zustimmung unter den Brasilianern aus?
Laut jüngsten Umfragen finden nur noch 25 Prozent seine Politik in Ordnung, 50 klassifizieren sie als schlecht oder sehr schlecht.
Bei wem hat er noch Rückhalt?
Wer nach wie vor hinter ihm steht, sind Leute, die an ihn als „Mythos“ fast in einem religiösen Sinn glauben. Alles, was dieser „Mythos“ von sich gibt, auch wenn es noch so abstrus ist, hat für diese Menschen nahezu einen biblischen Offenbarungseid. Außerdem ist Bolsonaro ein Vertreter der traditionellen brasilianischen Oberschicht. Diese hat alle finanziellen Mittel, dem Virus zu entkommen: Bei den ersten Anzeichen einer möglichen Infektion steht sofort eine Flugambulanz mit intensivmedizinischer Einrichtung bereit, die um umgerechnet 40.000 Euro die Reichen aus Amazonas-Metropolen in Luxusspitäler etwa nach São Paulo bringt.
Und was passiert mit den Armen der Region?
Die haben wenig Chancen: Die Stadt Altamira, in der ich bin, hat 130.000 Einwohner und gerade einmal zwei Krankenhäuser, die längst überfordert sind. Alle 16 Intensivbetten, die dem Gebiet Xingu (370.000 ) zur Verfügung stehen, sind belegt. Zugleich scheren sich die Eliten und Bolsonaro keinen Deut um die Gesundheit und das Leben dieser Menschen. Im Gegenteil: Als notwendige Arbeitskräfte werden sie aufgerufen, in die Betriebe zu kommen – auch wenn sie dabei zugrunde gehen. Der Präsident selbst meint, dass dies der Preis sei, den man bezahlen müsse, wenn man die Wirtschaft retten wolle. Ich versuche dagegenzuhalten und appelliere in Video-Botschaften: „Bleibt um Gottes Willen zu Hause, um Euch nicht gegenseitig anzustecken.“ Das ist die brutale Realität, die ich erlebe.
Inwiefern sind die Indigenen von der Pandemie betroffen?
Ich bin ganz der Überzeugung des berühmten Fotografen Sebastião Salgado, dass sich die Pandemie bei den indigenen Völkern zu einem Genozid entwickeln kann. Alle Indigenen sind in großer Gefahr. Denn Tatsache ist, dass ihr Immunsystem für eingeschleppte Krankheiten besonders anfällig ist. Schon im 16. und 17. Jahrhundert und noch herauf bis ins 20. Jahrhundert starben ganze Völker an Masern, Pocken und anderen Epidemien. Der Aufruf „fica em casa“ (Bleibt zu Hause) greift bei den Indigenen kaum oder überhaupt nicht. Ein „social distancing“ ist praktisch unmöglich. Zudem ist die medizinische Versorgung in den meisten Dörfern ohnehin seit jeher äußerst prekär.
Man hört, manche indigene Gruppen ziehen sich tiefer in die Regenwälder zurück.
Ja, aber auch da gibt es mitunter Probleme. Denn neben dem Corona-Virus grassiert in Amazonien längst ein anderes Virus, nämlich die skrupellose Zerstörung des tropischen Regenwaldes und die illegale Ausbeutung der Naturreichtümer. Holzfäller, Goldsucher und Viehzüchter dringen in indigene Gebiete vor und ein und fühlen sich von Bolsonaro gedeckt, weil er schon zu Wahlkampfzeiten für die „Erschließung“ Amazoniens plädierte. Und jetzt als Präsident die indigenen Reservate hinterfragt. Das ist für alle skrupellosen Eindringlinge Wasser auf ihre Mühlen.
Schlägt sich diese Entwicklung auch in Zahlen nieder?
Ja, die Tageszeitung O Estado de São Paulo, die sich auf Informationen des Nationalen Instituts für Weltraumforschung (Inpe) stützt, berichtete, dass sich die abgeholzten Gebiete in der Amazonasregion im vergangenen Jahr verdoppelt haben. Und auch heuer geht das so weiter. Der illegale Bergbau ist ebenfalls höchst besorgniserregend. Allein in den Yanomami-Region stieg seit der Bolsonaro-Regierung die Zahl der „garimpeiros“ (illegale Goldschürfer) von 20.000 auf 30.000, rechnete der „Rat für Indigene Völker der Bischofskonferenz“ vor.
Wie gehen Sie persönlich mit der Seuche um?
Ich lebe seit mehr als zwei Monaten als „Eremit“ im Bistumshaus in Altamira. Ich gestehe, dass die Isolation für mich nicht einfach ist, da ich seit jeher gewohnt bin, mit den Menschen in direkter Verbindung zu sein. Nun pflege ich, wo immer möglich, Kontakte über das Internet und schreibe viele WhatsApps. Lasse Videos aufnehmen, um den Leuten Mut und Freude zu machen und sie auf die wichtigen Verhaltensnormen hinzuweisen. Es geht hier tatsächlich um Leben und Tod. Aber das Leben als „Eremit“ ist auch lehrreich und anregend. Und dieses Alleinsein mit Gott macht mir Freude. Das einzige gemeinschaftliche Erlebnis ist die tägliche Eucharistiefeier mit drei Schwestern, natürlich ohne Friedensgruß-Umarmung und Händeschütteln.
Wann glauben Sie, wieder nach Europa und Österreich fliegen zu können?
Da habe ich nun wirklich keine Ahnung. Ich weiß absolut nicht, wann der nationale und internationale Flugbetrieb wieder aufgenommen werden kann. Im Moment sieht es nicht danach aus.
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