England geht im Artenschutz voran, Österreich geht nicht mit
Die Welt erlebt derzeit das größte Massensterben seit dem Ende der Dinosaurier vor 65 Millionen Jahren. Zahlen gefällig? 73 Gattungen, also ganze Gruppen von Tierarten, sind seit dem Jahr 1500 ausgestorben.
Ohne menschlichen Einfluss wären es gerade einmal zwei gewesen. Das ergab die Analyse eines internationalen Forscherteams, die im Herbst veröffentlicht wurde. Die Weltnaturschutzunion IUCN führt aktuell 44.000 von insgesamt 157.000 Pflanzen- und Tierarten auf ihrer Roten Liste der bedrohten Arten.
Kurzum: Die Abnahme der Biodiversität, also der Vielfalt des Lebens, ist ein weltweites Problem. Die Wurzel des Übels ist, wie auch bei den anderen beiden Teilen der sogenannten „dreifachen planetarischen Krise“, dem Klimawandel und der Umweltverschmutzung, der ungebremste Ressourcenverbrauch der Menschheit.
Das sechste Massenaussterben ist im Gange
Ob man es Landnutzung oder Bodenverbrauch nennt: Das Zurückdrängen der natürlichen Ökosysteme führt direkt zum sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte – und dem ersten, das nicht aufgrund natürlicher Ursachen vonstatten geht. Die Reaktion auf die Bedrohung ist jedoch praktisch überall auf der Welt zögerlich – siehe etwa das Ringen um eine österreichische Bodenstrategie.
In England versucht man mittlerweile aber, das Problem anzupacken. Ab dem 2. April müssen dort sämtliche Bauprojekte, ob Wohn-, Straßen- oder Bahnbau, den durch die Entwicklung verursachten Biodiversitätsverlust nicht nur ausgleichen, sondern auf die Dauer von zumindest 30 Jahren um zehn Prozent übererfüllen (für größere Projekte traten die Regeln bereits mit 12. Februar in Kraft, für Großprojekte im nationalen Interesse gilt eine Übergangsfrist bis November 2025).
Wird etwa ein Wald für den Bau einer Straße gerodet, muss ein um zehn Prozent größerer Wald an anderer Stelle gepflanzt werden. Sophus zu Ermgassen, Ökologe an der Universität Oxford und Berater der britischen Regierung, spricht von „einem der ambitioniertesten politischen Biodiversitätsvorhaben der Welt“.
Planungssicherheit wird gewährleistet
Im Kern funktioniert das so: Schon bei der Einreichung müssen die Projektwerber den Biodiversitätsverlust nach einer vorgegebenen Formel berechnen – und angeben, wo und wie sie ihn ausgleichen wollen. Das soll, wo möglich, vor Ort passieren, und kann, wo nicht, an anderer Stelle sein.
Die dafür nötigen Ausgleichsflächen könnten etwa auf wenig ertragreichem Ackerland geschaffen und am Ende sozusagen, ähnlich dem Emissionshandel, als Biodiversitätszertifikate gehandelt werden. Der mögliche Nebeneffekt, sollte das System in Schwung kommen: ein konstantes Zusatzeinkommen für die Bauern, die ihre Flächen verpachten.
Ob das funktioniert und sich ein solcher Markt bildet, muss sich freilich erst zeigen, das System läuft gerade erst an. Von der „Erprobungs- und Innovationsphase“, spricht zu Ermgassen. Dennoch wird auch international bereits mit Spannung auf die Insel geblickt.
Andere warten auf das englische Ergebnis
„Andere Länder beobachten uns und sehen, wie es sich entwickelt“, sagt Biologin Natalie Duffus, ebenfalls von der Universität Oxford, zum Guardian. „Wenn wir es gut machen, denke ich, dass es entsprechende Märkte in vielen verschiedenen Ländern inspirieren könnte.“
Auch in Österreich? Eher nicht, wenngleich Franz Essl, Ökologe an der Universität Wien und Wissenschafter des Jahres 2022, zum KURIER sagt, dass das „ambitionierte und beispielgebende“ englische Gesetz „definitiv“ auch hierzulande ein sinnvoller Ansatz wäre. „Es zeigt, dass eine intakte Natur nicht selbstverständlich ist, und schon gar nicht gratis“, so Essl, „sondern, dass sie uns etwas wert sein muss“.
Zwar gibt es auch in Österreich ähnliche Ansätze, etwa im Rahmen von Umweltverträglichkeitsprüfungen vorgeschriebene Ausgleichsmaßnahmen. Aber nicht in diesem Ausmaß, sagt Essl: „Das englische Gesetz geht hier viel weiter, und das sollte ein Vorbild für Österreich sein.“ Auch die erforderlichen, nicht dringend für die Landwirtschaft benötigten Flächen wären vorhanden.
Heimische Landwirtschaftsvertreter sind dagegen
Die Landwirtschaftskammer sieht das anders. Durch das EU-Naturschutz-Regime unterlägen bereits rund 25 Prozent der heimischen Flächen einem strengen Schutz. Jede weitere Form der Unterschutzstellung von Flächen zu Zwecken der Biodiversität bzw. des Naturschutzes werde daher „als nicht zielführend erachtet und abgelehnt“.
Und auch im Landwirtschaftsministerium gibt man sich ablehnend. „Eine generelle Vorgabe für derartige Ausgleichsflächen wird als wenig sinnvoll erachtet, da es immer auf das Ausmaß der Bautätigkeit bzw. auch das Ausmaß der Eingriffe in Ökosysteme ankommt“, heißt es dort.
Man bitte jedoch um Verständnis, dass für eine genaue Beurteilung des englischen Modells „jedenfalls eine eingehendere rechtliche Analyse erforderlich“ wäre. Von einer solchen könnte man überrascht werden, denn genau darum geht es beim "Biodiversity Net Gain", wie die Regelung offiziell heißt: angepasste anstatt pauschaler Vorgaben.
Gesichtere Ernten nur mit intakter Natur
Zudem sei „klar, dass stabile und gesicherte Ernteerträge nur in einer intakten Kulturlandschaft möglich sind – alleine schon wegen den Bestäubern und Nützlingen, die in einer ausgeräumten Landschaft keine Chance haben“, sagt Essl. Daher sei es wichtig, Hecken, Blumenwiesen und Feuchtgebiete zu schützen und zu renaturieren – und noch viel wichtiger, den „unglaublich großen Flächenverbrauch“ Österreichs von mehr als elf Hektar pro Tag einzudämmen.
Das sieht man auch in Brüssel so. Die konkrete Regelung kommentiere man nicht, schreibt ein Sprecher der Europäischen Kommission. Der EU-Standpunkt, dass Schäden „in erster Linie vermieden und minimiert werden sollten“, sei jedoch bekannt, Ausgleichsmaßnahmen hingegen der letzte Schritt.
Das Gelingen hängt auch von der Kontrolle ab
Und selbst wenn, ist das Erlassen eines Gesetzes natürlich kein Garant für das Gelingen des Vorhabens. „Der Teufel steckt wie immer im Detail“, sagt Essl. Wichtig sei, dass der Mehrwert der Ausgleichsmaßnahmen gut belegt ist. Dafür brauche es wissenschaftliche Standards, klare Regeln und Begleituntersuchungen, „damit der Zustand der Natur nicht nur am Papier verbessert wird, sondern auch wirklich in der Natur“.
Auch in England gibt es Skepsis an der Kontrollierbarkeit der Maßnahmen. Laut einer Studie, an der auch zu Ermgassen beteiligt war, könnte ein Viertel der Ausgleichsmaßnahmen – nämlich ausgerechnet jene, die an Ort und Stelle des Projekts durchgeführt werden – aufgrund mangelnder Kontrollmöglichkeiten und -ressourcen ins Leere laufen.
Dieser Gefahr ist man sich auch bei Umweltschützern wie der NGO „Campaign for Nature“ bewusst. Dennoch ist das Gesetz für sie ein Meilenstein: „Grundsätzlich ist es von entscheidender Bedeutung, dass unsere Regierungen beginnen, die biologische Vielfalt als das öffentliche Gut anzuerkennen, das es ist, wie der Gesetzesvollzug oder die Landesverteidigung“, schreiben sie in einer Analyse.
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