Bidens Europa-Comeback mit Fragezeichen
Wenn Joe Biden am Mittwoch in Washington zu Ukraine-Russland-lastigen Gipfeltreffen von EU, NATO und G 7 in Richtung Brüssel abhebt, landet acht Stunden später ein anderer amerikanischer Präsident in der alten Welt als der des vergangenen Jahres. Seine laut Umfragen bereits so gut wie tot gesagte Präsidentschaft hat durch Wladimir Putins völkerrechtswidrigen Angriffskrieg eine unerwartete Aufbauspritze erhalten.
Wie der 79-Jährige bisher den Westen durch die größte europäische Krise seit Jahrzehnten navigiert, das hat von Helsinki bis Madrid großen Eindruck gemacht. Ohne es plakativ zu verkünden, hat Biden die Trump’sche „America First“-Doktrin (vulgo: Amerika im Alleingang) ausrangiert. So bündniswillig, transparent und partnerschaftlich gegenüber Europa hat sich kaum einer seiner Vorgänger gezeigt.
Dass Präsident Biden die Sanktionsschrauben gegen Wladimir Putin brutal angezogen hat und abseits massiver Waffenlieferungen für Kiew bei seiner „roten Linie“ bleibt – keine US- oder NATO-Truppen in der Ukraine! –, wird bisher von einer überwältigenden Mehrheit in Europa geteilt.
Würgegriff nicht zu eng
Es gibt keinen echten Widerspruch, wenn Außenminister Tony Blinken täglich wiederholt: „Was wir versuchen, ist die Beendigung des Krieges in der Ukraine. Wir wollen keinen größeren Krieg auslösen.“
„Biden will den Eindruck vermeiden, der Westen wolle Putin stürzen und Russland zerschlagen“, sagt ein Regierungsinsider. Daran änderten auch Etiketten wie „Kriegsverbrecher“ oder „mörderischer Diktator“ nichts, mit denen der amerikanische Präsident seinen Gegenspieler ungewöhnlich scharf stigmatisiert – spätere Aussöhnung so gut wie ausgeschlossen. Aber Biden umgibt sich mehrheitlich mit Stimmen, die beständig davor warnen, den ökonomischen Würgegriff gegen Russland nicht zu eng werden zu lassen.
Wut und Frustration
Ein „in die Ecke getriebener“ Putin könne sonst vielleicht zur Atomwaffe greifen, ist die Befürchtung. Gleichzeitig wachsen vor der Brüssel-Visite am Donnerstag mit jedem Fernsehbild über russische Gräueltaten gegen Kinder, Frauen und Senioren in den USA Wut und Frustration darüber, dass das menschliche Leid in der Ukraine zu- und nicht abnimmt. Ausdruck der Ungeduld ist eine parteiübergreifend wachsende Bereitschaft im Kongress, der Ukraine mehr als nur Selbstverteidigungswaffen und Aufklärungsgerät zukommen zu lassen.
Dahinter steht die Einschätzung, dass Russlands Präsident den Finger nicht vom Abzug nehmen wird; auch weil niemand Putin am Schießen hindert.
NATO in Bewegungsstarre?
Hier kommt der ehemalige NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark ins Spiel. Er sieht in der NATO mitunter ein Selbstabschreckungsbündnis, das sich von Putins atomaren Säbelrasseleien in die Bewegungsstarre manövrieren lässt. Clark rät dazu, dem Kreml-Herrscher entschlossen entgegenzutreten; etwa durch eine substanzielle Aufstockung von Personal und Material an der NATO-Ostgrenze.
Denn Putins nächste Attacke gegen den Westen sei schon in der Pipeline, fürchtet der frühere NATO-Oberbefehlshaber.
Für Joe Biden wäre das eine zusätzliche Erschwernis beim Gang über das Hochseil. Seine Präsidentschaft hat durch den Krieg ohne Zweifel an Statur gewonnen. Trotzdem ist er acht Monate vor den wichtigen Zwischenwahlen im amerikanischen Kongress ein Präsident auf Abruf. Und das obwohl der mächtigste Konservative im Senat, Mitch McConnell, gerade gesagt hat: „Ich denke, es gibt breite Unterstützung für den Präsidenten und das, was er in der Ukraine tut.“
Schaut man die für Biden seit Kriegsausbruch latent positiver anmutenden Umfragen genauer an, wird klar, dass seine Reaktion auf das Kriegsgeschehen in Europa nicht wirklich auf sein innenpolitisches Konto einzahlt.
Magere Zustimmung
Zustimmungsraten von nur 38 bis 43 Prozent stehen je nach Meinungsforschungsinstitut immer noch stabile Ablehnungsquoten von 52 bis 60 Prozent (und mehr) gegenüber.
Bei Themen wie Wirtschaft, Kriminalitätsbekämpfung, illegale Einwanderung oder Inflation sieht es noch entschieden düsterer aus. Demokratische Partei-Analysten sagen darum: „Spielraum für eine Strategie, die mehr versucht, als Moskaus Vormarsch zu verlangsamen und die russischen Verluste und Kosten in die Höhe zu treiben, bleibt da im Moment nicht.“
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