Jahrzehntealter Konflikt
„Verbrennt eure Dokumente, verlasst euer Zuhause“ – das seien die letzten Befehle vor der Flucht gewesen, sagt Norayr. Der 42-Jährige aus der Dauerkrisenregion Bergkarabach (siehe Infobox) war, wie viele Männer dort, Soldat. Als es am 19. und 20. September 2023 einmal mehr zu heftigen Kämpfen mit dem aserbaidschanischen Militär kam, befand er sich an der Front.
Auch Hrayr war als Freiwilliger im Einsatz. Die Brüder tun sich schwer, darüber zu reden. „Es war schrecklich“, sagt Norayr nur. Viele seiner Kollegen seien gestorben.
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Mindestens genauso schlimm waren für sie aber die neun Monate davor, in denen Aserbaidschan die einzig verbliebene Verbindungsstraße zwischen Bergkarabach und Armenien blockierte – und eine humanitäre Krise auslöste: „Die Leute haben irgendwann nichts mehr zu essen gefunden“, erzählt Hrayr. Am Land sei es etwas besser gewesen, da habe man Tiere schlachten und Lebensmittel ernten können: „Aber in der Stadt sind sie verhungert.“
"Habe noch nie so viele abgemagerte Menschen gesehen"
Auch Psychologin Armida Zakharyan beschreibt katastrophale Zustände. Als mehr als 100.000 ethnische Armenier wie die Baghryans Bergkarabach innerhalb von fünf Tagen verließen, war sie nahe der Grenze zu Aserbaidschan für das Rote Kreuz im Einsatz und koordinierte die Psychische Erste Hilfe. „Ich habe noch nie so abgemagerte Menschen gesehen“, erinnert sie sich. Manche seien wie versteinert gewesen, als sie Armenien nach tagelanger Reise erreichten. Zakharyans Kollegen leisteten medizinische Hilfe und verteilten Nahrungsmittel, Decken, Hygienesets.
Viele Geflüchtete brauchen noch immer Unterstützung – psychologisch wie materiell. Sie haben keinen Zugang zu ihrem Hab und Gut in Bergkarabach. Obwohl Armenien ein armes Land ist, war für Bevölkerung und Politik gleichermaßen klar, dass man den Bergkarabachern helfen muss. Die Armenier würden mit ihnen leiden, sagt Zakharyan: „Es ist eine Sache, wenn Menschen aus einem anderen Land kommen. Das hier ist anders. Wir teilen ihre Trauer, spüren ihren Schmerz.“
Regierung und Gemeinden organisierten Notunterkünfte – ehemalige Kindergärten, Jugendzentren und sogar Casinos wurden provisorisch umgestaltet. Später vermittelte man Wohnungen und Häuser zur Miete. Auch Geld erhielten die Geflüchteten, rund 250 Euro pro Person waren es zu Beginn. Offiziell sollte es weiterhin staatliche Finanzhilfen geben, doch einige Bergkarabacher, mit denen der KURIER sprach, warteten im Dezember noch auf ihr Oktober-Geld. So auch Familie Baghryan. Für das Haus, in dem sie mit ihren sechs Kindern leben, zahlen sie pro Monat etwa 230 Euro – zu viel für den schlechten Zustand, sind Hrayr und Norayr sich einig.
„Wir sind Arzacher“
Natürlich hoffen sie, in Armenien gute Jobs zu finden. Hrayr träumt von einem Bauernhof mit Ziegen – so einen wie den, den er zu Hause hatte. Doch ihr größter Wunsch, auch da stimmen sie überein, ist die Rückkehr nach Bergkarabach. Dass das in absehbarer Zeit möglich ist, ist unwahrscheinlich. Vielmehr existiert in Jerewan die Sorge vor weiteren Kriegsplänen Aserbaidschans, wird doch wie zuvor um Bergkarabach auch um die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan – sie wird hauptsächlich von Armenien und dem Iran umschlossen – bereits seit vielen Jahren gestritten.
Obwohl seine Familie von der armenischen Bevölkerung gut aufgenommen wurde, seien sie mehr „Arzacher“ (So nennen Menschen aus Bergkarabach sich selbst, Anm.) als Armenier, sagt Norayr, der jederzeit wieder für seine Heimat kämpfen würde. Er will aus einem besonderen Grund zurück. Seine Frau ist 2017 gestorben, bei der Geburt ihres Sohnes. „Wie soll ich meinen Kindern erklären, dass ihre Mutter an einem Ort begraben liegt, an den sie nicht gehen können?“, fragt er. Tränen laufen ihm über die Wangen.
Die Reise kam in Kooperation mit dem Roten Kreuz zustande. Spendenkonto: GIBAATWWXXX (BIC), AT57 2011 1400 1440 0144 (IBAN); Erste Bank: 20.111(BLZ)
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