Baustelle Bulgarien: Russland spaltet, der Euro lockt
Zum vierten Mal in zwei Jahren wählen die Bulgaren ein neues Parlament. Der Balkanstaat ist müde und zerrissen. Atanas Pekanov, Wifo-Ökonom aus Wien und aktueller Vize-Premier, will sein Herkunftsland auf die richtige Spur lenken.
Normalerweise nutzt Atanas Pekanov den Sommer in Bulgarien für Familienbesuche. Diesmal war es Präsident Rumen Radew, der den Wifo-Ökonomen aus Wien nach Sofia rief und als Vizepremier in die Expertenregierung setzte.
Der Balkanstaat steht vor seinen vierten Wahlen in zwei Jahren. Die Menschen sind wahlmüde, die Probleme groß: Krieg, Inflation, hohe Energiepreise bestimmen den Wahlkampf. Dazu kommt eine polarisierte Gesellschaft zwischen Bulgariens historischer Verbundenheit gegenüber Russland und dem pro-europäischen Weg. Es sind schwierige Bedingungen, unter denen Pekanov versucht, das Land auf die nächste Regierung vorzubereiten.
KURIER: Präsident Radew hat Sie aus Wien nach Sofia gerufen. Warum sind Sie geeignet, diese Übergangsregierung mitzuführen?
Atanas Pekanov: Ich bin mit dem Präsidenten seit mehreren Jahren in Kontakt und habe ihn schon öfters beraten. Ich kenne die Probleme des Landes und versuche gleichzeitig, den Blick von außen auf Bulgarien zu verstehen. Und ich glaube, ich habe mich profiliert als Experte in EU-Wirtschaftsthemen.
Wie kann man sich die Übergangsregierung in Bulgarien vorstellen? Ist sie vergleichbar mit dem Kabinett Bierlein in Österreich?
Nicht ganz. Wir sind ebenfalls eine Expertenregierung, ich würde uns aber nicht als passive Verwaltungsregierung sehen. Wir haben bestimmte Prozesse weiterzuführen – etwa den Aufbau- und Resilienzplan, den wir mit der EU-Kommission abgestimmt haben. Auch der Euro-Beitritt muss vorbereitet werden. Wir machen also durchaus aktiv Politik.
Zum Beispiel Energiepolitik: Ihre Regierung hat den Flüssiggasdeal mit den USA fallen gelassen und handelt wieder mit Gazprom.
Ja, das stimmt. Langfristig, das wissen wir, ist Russland kein verlässlicher Partner mehr. Kurzfristig jedoch haben Energiesicherheit und Preis Vorrang. Und da haben wir derzeit keine andere Wahl als Russland.
Gleichzeitig trägt Bulgarien aber die EU-Sanktionen mit und wartet Kriegsgeräte der Ukraine. Auf wessen Seite steht die bulgarische Bevölkerung im Ukraine-Krieg?
Das Thema Russland sorgt für eine große Spaltung in der Bevölkerung. Einerseits haben wir eine wichtige historische Verbundenheit mit Russland, die eng mit unserer nationalen Identität verknüpft ist. Andererseits ist ein Teil der Bevölkerung extrem kritisch gegenüber Putin und tritt für einen kompletten Abbruch aller Beziehungen ein.
Vermissen Sie aus Brüssel und dem Westen mehr Verständnis gegenüber dem Nationalbewusstsein der Bulgaren – auch angesichts der Nordmazedonien-Frage?
Ich glaube, Bulgarien wird von außen häufig missverstanden. Viele Westeuropäer vergessen das, wenn über den Streit mit Nordmazedonien gesprochen wird.
Hat sich der europäische Weg Bulgariens durch den Angriffskrieg verändert – Stichwort Euro?
Nein. Die letzte Regierung hat entschieden, dass wir am 1. Jänner 2024 der Euro-Zone beitreten. Das streben wir natürlich weiter an, genauso wie den Beitritt zum Schengenraum. Wir beobachten gerade intensiv Kroatien bei seinen Vorbereitungen zum Euro-Beitritt. Doch der Euro bringt auch Ängste mit sich: Derzeit haben wir eine Inflation von 18 Prozent, viele fürchten, dass der Euro die Inflation weiter antreibt. Das weckt böse Erinnerungen an die 90er-Jahre (Wirtschaftskrise nach Zerfall des Ostblocks, Anm.).
Die Vorgängerregierung hat die Verbraucherpreise für Strom und Gas eingefroren, die Mehrkosten bezahlt der Staat. Wie bewerten Sie diese Maßnahme?
Ich finde diese Kompensation vom Staat suboptimal, ja regelrecht skandalös. Diese Maßnahme bietet keinen Anreiz zum Sparen, genau das bräuchten wir aber. Einige Unternehmen machen extrem hohe Gewinne mit den hohen Preisen, und wir unterstützen das auch noch. Doch diese Maßnahme war eine Entscheidung des Parlaments in den letzten Tagen im Amt, und meiner Meinung nach schon ein Wahlgeschenk mit Blick auf Oktober.
Ein anders großes Problem in Bulgarien ist die Auswanderung der Jungen. Wie kann man dagegen vorgehen?
Das ist unsere größte Gefahr und gleichzeitig unsere größte Chance: Wir müssen es schaffen, dass diese jungen, gebildeten Leute, die ins Ausland studieren gehen, wieder zurückkommen, und unser Land verbessern.
Ein großer Teil der Bevölkerung ist sehr EU-skeptisch. Welche Fehler hat Brüssel in Bulgarien gemacht?
Ein Fehler war sicher, dass ein Großteil der Finanzmittel in die Großstädte geflossen ist. Am Land fehlen Schulen und Infrastruktur. Viele ältere Leute meinen deshalb auch, die EU sei schuld, dass unsere Kinder ins Ausland gegangen sind.
Europa muss strenger werden: In den letzten Jahren hat Bulgarien viel Geld bekommen, aber wenige Reformen durchgesetzt. Und Brüssel hat nicht genau hingeschaut. Mit dem Aufbauplan gibt es jetzt mehr Kontrolle und Eingreifmöglichkeiten. Und wir müssen besser kommunizieren. Stichwort Green Deal: Die Leute, die in Kohlekraftwerken arbeiten, sind ihm gegenüber skeptisch, fürchten um ihren Jobs. Darauf müssen wir eingehen – sonst erwartet uns eine ähnliche Situation wie Großbritannien in den 80er-Jahren.
Am 2. Oktober wählt Bulgarien zum vierten Mal in zwei Jahren. Wird diesmal eine stabile Regierung zustande kommen?
Ich hoffe sehr. Die Leute sind müde vom Wählen, das ist auch an der Wahlbeteiligung erkennbar. Die Menschen wollen Ergebnisse sehen. Doch Ergebnisse brauchen Zeit. Prognosen sagen jedenfalls voraus, dass das EU-kritische und pro-russische Lager Stimmen dazugewinnen wird.
Und Sie? Wollen Sie in der Politik bleiben? Oder kehren Sie wieder zurück ans Wifo?
Mein akademisches Leben hat weiterhin Vorrang. Was mir an der Wissenschaft besser gefällt als an der Politik: Man kann mit Argumenten denken und anhand von Daten seine Meinung ändern. Wie Keynes gesagt hat: Wenn sich die Fakten ändern, kann man auch seine Meinung ändern. In der Politik gilt eine Meinungsänderung oft als Schwäche. Das sehe ich anders – als ein Zeichen von Stärke.
6,5 Millionen Bulgaren sind am Sonntag aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen - zum vierten Mal in zwei Jahren. Ende Juni wurde die als fortschrittlich gefeierte, liberal-sozialistische Regierung unter Ministerpräsident Kiril Petkow durch ein Misstrauensvotum gestürzt. Atanas Pekanov, 31 Jahre alt, ist als Vize-Premier Teil einer vorübergehenden Expertenregierung. Der Wifo-Ökonom lehrt an der WU Wien, war für die EZB in Frankfurt tätig und auch schon von Mai bis Dezember 2021 Vize-Premier, zuständig für die Verwaltung von EU-Mitteln. Ein wesentlicher Posten im ärmsten EU-Land.
Doch die Aussichten sind keine guten: Es herrscht tiefes Misstrauen zwischen den wichtigsten Parteien, eine regierungsfähige Koalition scheint unmöglich. Meinungsforscher prognostizieren eine sehr niedrige Wahlbeteiligung von rund 35 Prozent. Sehr wahrscheinlich werden die EU-kritischen und pro-russischen Parteien Stimmen dazugewinnen.
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