Eskalierende Bandenkriminalität: Warum in Schweden Kinder töten

Laut Experten ist die schwedische Polizei den Auswüchsen der Bandenkriminalität nicht gewachsen – das Militär soll jetzt unterstützen
Ein gewöhnlicher Sportplatz in Fruängen, südlich von Stockholm. Viele Kinder und Jugendliche haben an diesem Mittwochabend im September Fußballtraining, als plötzlich Schüsse fallen. Die Trainer scheuchen die Kinder wie eine Herde zusammen, bis klar ist: Die Schüsse kamen vom angrenzenden Parkplatz, ein 18-Jähriger stirbt. Zweieinhalb Wochen zuvor wurde ein 13-Jähriger in einem Waldstück südlich der schwedischen Hauptstadt gefunden – getötet durch einen Kopfschuss.
Zwölf Menschen sind im September in Schweden durch Schusswaffen oder Bombenattentate ermordet worden – die höchste Opferzahl innerhalb eines Monats seit vier Jahren.
Die Morde werden dem kriminellen Bandenmilieu zugeschrieben, 30.000 Menschen sollen darin verwickelt sein. Wie kann es sein, dass sich in einem reichen Land wie Schweden, das in vielen Bereichen stets als Vorbild genannt wird, so viele und immer jüngere Menschen Gangs anschließen, aufeinander schießen, einander sogar töten?
Es ist besser, einen Tag lang jemand zu sein, als ein ganzes Leben lang niemand zu sein.
Geheimdienstchef der Region Mitt, zum KURIER

Jale Poljarevius, Geheimdienstchef bei der Polizei in der Region Mitt.
Kindersoldaten
Jale Poljarevius gilt in den schwedischen Medien als Experte im Bereich der Bandenkriminalität. Die sogenannten "Kindersoldaten" begegnen ihm bei seiner Arbeit mittlerweile regelmäßig. Sie tragen schwere Waffen, führen Auftragsmorde aus, sprengen Hausfassaden und schießen auf Eingangstüren.
Dass es immer häufiger Minderjährige sind, die im Zusammenhang mit tödlichen Attentaten festgenommen und angeklagt werden, liegt laut Poljarevius an einer Lücke, die sich auftut, wenn ältere Gangmitglieder tot oder im Gefängnis sind. Die "Kindersoldaten" werden nicht nur für die Bandenkriege rekrutiert, sie schließen sich auch freiwillig an. Angst und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Sicherheit treiben Jugendliche immer häufiger in kriminelle Banden. Diese empfangen sie mit offenen Armen: Denn für Minderjährige sind die Höchststrafen bei Mord vier Jahre geschlossene Jugendbetreuung. Die Jugendlichen nehmen das mit der Aussicht auf Geld und Anerkennung in Kauf, die Bandenchefs sich so selbst aus der Schusslinie.
Der konstante Nachschub an jungen Menschen, die bereit sind, Morde zu begehen: Es ist das große Problem, welches bis dato vergeblich bekämpft wird.
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Schweden hat seit einem Jahrzehnt Probleme mit Bandengewalt, die in den vergangenen fünf Jahren zunehmend eskaliert ist. Bei den Konflikten geht um Drogen, Macht und Rache. Missglückte Integration wird unter anderem von Regierungschef Ulf Kristersson als ein Grund für die Gewalt genannt. 42 Tote durch Schusswaffen gab es seit Jahresbeginn in Schweden. 2022 waren es 62.
Die besondere Gefahr, die von den Kindersoldaten ausgeht, beschreibt Poljarevius so: "Das sind Menschen, die unter Drogeneinfluss stehen, das sind Menschen, die nicht in fortgeschrittenen Waffensystemen geschult sind. Manchmal handelt es sich um militärische Waffensysteme, bei denen es sich um automatische Waffen und dergleichen handeln kann. Und das erfordert eine Ausbildung." Über solche Kenntnisse verfügten diese Leute nicht, was sie "sowohl für sich selbst als auch für andere sehr, sehr gefährlich" macht. "Diese Personen sind weitaus gefährlicher, als die Waffen selbst."
Die Toten sind auch längst nicht mehr nur innerhalb der Gangs zu beklagen. Im September fielen dem schwedischen Fernsehsender SVT zufolge vier Menschen, die nicht in die Bandenkriminalität verwickelt waren, der Gewaltspirale zum Opfer – noch mehr wurden teils schwer verletzt. Poljarevius spricht zwar von einem "geringen" Risiko, dass Dritte zu Schaden kommen: "Aber ich wünschte, ich könnte sagen und garantieren, dass es nie passiert."
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Immer mehr unschuldige Opfer: Eine 25-Jährige wurde bei dieser Detonation getötet, soll aber nicht das Ziel des Anschlags gewesen sein.
Unterstützung vom Militär
Mit 1. Oktober trat eine Reihe an Gesetzesänderungen in Kraft, um die eskalierende Gewalt einzudämmen. Die weitreichendste Änderung darunter: Die Polizei darf nun auch ohne konkreten Verdacht Menschen heimlich abhören. So sollen weitere Morde bereits im Ansatz verhindert werden.
Auch das Militär wird zur Hilfe gerufen. Es soll die Polizei unterstützen und entlasten, damit alle Kraft auf die Bekämpfung der Bandenkriminalität gerichtet werden kann. Zusätzlich werden der Ausbau von Kamera- und Drohnenüberwachung sowie Gesichtserkennung diskutiert.
Dass es diese Gesetzesänderungen braucht, darüber sind sich sowohl die regierenden bürgerlich-konservativen Moderaterna, die sie unterstützenden rechtspopulistischen Sverigedemokraterna und die oppositionellen Socialdemokraterna einig. Aber auch in einem anderen Punkt stimmen sämtliche Akteure überein: Die tödliche Gewalt wird so schnell nicht aufhören.
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