Auf den letzten Metern vor einem Deal – oder einem Crash-Brexit

Ist Großbritannien zu Monatsende draußen aus der EU? Mittwoch Abend fällt eine Vorentscheidung.

Wie immer, wenn in der EU-verhandelt wird, ist auf den letzten Metern alles möglich. Jedes Szenario bei den noch bis heute Abend hektisch laufenden Gesprächen zwischen der britischen Regierung und der EU-Kommission über den Brexit scheint denkbar.

Wie ist knapp zwei Wochen vor dem – vermeintlichen – Austritt der Briten aus der EU und einen Tag vor dem entscheidenden EU-Gipfel der Stand der Dinge und woran spießt es sich?

Szenario Eins: Noch kein Abkommen, aber die Gespräche gehen weiter und Großbritannien bleibt noch in der EU: sehr wahrscheinlich.

Die entscheidende Wende kam in der Vorwoche. Da legte die britische Regierung plötzlich einen Vorschlag auf den Tisch, der Verhandlungsblockaden aus dem Weg räumte. Durch die irische Insel wird keine Zollgrenze gehen, war Premier Johnsons Eingeständnis. Und das, obwohl das zu Großbritannien gehörende Nordirland nicht mehr zum EU-Zollgebiet zählen wird. Die Zauberformel dafür heißt: „Zollpartnerschaft“. Die Zollgrenze würde dann in der Irischen See liegen; die Nordiren würden alle Lieferungen, die in ihren Häfen und Flughäfen ankommen, nach EU-Regeln und EU-Standards kontrollieren.

Neu ist diese Idee nicht, aber erstmals wird sie von der britischen Seite ernsthaft verfolgt. Der Gewinn dabei wäre: Bei einem Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU würde keine Grenze zwischen Irland und Nordirland entstehen.

Auf den letzten Metern vor einem Deal – oder einem Crash-Brexit

Britischer Premier Boris Johnson

Die Schönheitsfehler dabei: „Jetzt haben wir ein Konzept, das die britische Regierung und wir auch für möglich halten“, dämpfte gestern ein EU-Diplomat die Erwartungen, „aber wir brauchen noch die Details. Die sind extrem wichtig!“ Diese Details aber werden sich kaum bis Mittwoch Abend ausverhandeln lassen. Deshalb gilt als wahrscheinlich, dass EU-Chefunterhändler Michel Barnier den EU-Staaten Mittwoch Nacht empfehlen wird, den Briten noch eine Verlängerungsfrist zu gewähren. Mit dem Ziel, das Abkommen in Ruhe zu Ende zu verhandeln.

Szenario zwei: Verhandlungsdurchbruch, ein Deal und geordneter Austritt Großbritanniens aus der EU am 31. Oktober: eher unwahrscheinlich

Großbritannien und EU haben nun zwar erstmals das gleiche Ziel und die gleiche Wegstrecke vor Augen, aber die Zeit ist zu knapp. Nur wenn bis heute, Mittwoch Abend, alle Details dieser Lösung für Irland/Nordirland geklärt sind, könnten sie die EU-Staats- und Regierungschefs beim Gipfel am Donnerstag und Freitag billigen. Und dann müsste auch das britische Parlament das Abkommen ebenso annehmen (was alles andere als sicher ist) wie das EU-Parlament.

Nach all diesen nicht unbeträchtlichen Hürden würde das Vereinigte Königreich geregelt aus der EU austreten. Danach würde gemäß Abkommen eine Übergangszeit (bis Ende 2020) beginnen, in der Großbritannien nicht mehr EU-Mitglied ist, aber noch den EU-Regeln folgt.

Szenario drei: harter Brexit, Ausstieg Großbritanniens aus der EU ohne Abkommen am 31. Oktober: eher unwahrscheinlich

Sucht London in Brüssel nun nicht um Verlängerung an, verlässt Großbritannien mit Monatsende automatisch die EU – es wäre ein „harter Brexit“, also ohne Abkommen. Premier Boris Johnson hatte zwar angekündigt, er läge lieber „tot im Graben als noch einmal in Brüssel Verlängerung zu beantragen“. Doch Johnsons jüngstes Zugehen auf die EU-Forderungen lässt erwarten, dass auch er unbedingt ein Abkommen erreichen will. Und selbst den härtesten Brexiteers könnte er nun erklären: Wenn Großbritannien ein realistisches Abkommen vor Augen hat und es dafür aber noch ein wenig Zeit braucht, dann kommt es auf ein paar Tage mehr oder weniger EU-Mitgliedschaft auch nicht mehr an.

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