Assad vor dem Sturz, Homs in der Hand der Aufständischen – was kommt danach?

Weiter heftige Gefechte am südlichen Stadtrand von Damaskus. Die Stadt Daraa, südlich von Damaskus, in der Hand der Aufständischen. Die Millionenstadt Aleppo so wie die Stadt Hama fest in der Hand der Terrorgruppe „Hayat Tahir al-Sham“ (HTS).
In der Nacht auf Sonntag nahmen HTS und Verbündete die Stadt Homs ein. Sie liegt 40 Kilometer südlich von Hama – und an strategisch wichtiger Position: Von Homs aus erhielt die Hisbollah bislang einen Teil ihrer Waffenlieferungen, vor allem aber verläuft eine wichtige Versorgungsstraße in die Provinz Latakia durch die Stadt.

Und dort befinden sich unter anderem die russischen Marinestützpunkte. Fällt Homs an die HTS, ist die Provinz vom Rest des Landes abgeschnitten. Nach wie vor ergreifen syrische Verbände panisch die Flucht – zuletzt gaben sie die Stadt Quneitra an der Grenze zu Israel auf.
Damit bleibt dem Assad-Regime nur noch Latakia und Damaskus als tatsächlich kontrolliertes Gebiet. Und es ist fraglich, wie lange das noch der Fall sein wird.
Damaskus dürfte bald von Norden, Osten und Süden angegriffen werden, wenn sich an der Lage der syrischen Streitkräfte nichts ändert. Und danach sieht es nicht aus. Vor allem kämpft die desolate und korrupte Armee gegen eine Vielzahl von Gegnern. Wie konnte die Lage plötzlich so eskalieren? Ist Assad am Ende? Und ist eine neue Flüchtlingswelle zu erwarten? Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen.
Der Angriff der Terroristen und Rebellen dauert keine zwei Wochen an, dennoch musste das Assad-Regime weite Teile des Landes und große Städte aufgeben. Wie konnte das passieren?
Der blutige Bürgerkrieg, der seit 2011 tobt, sorgte in den vergangenen Jahren nicht für viele Schlagzeilen. Mit einem Waffenstillstand 2020 in der Provinz Idlib – zwischen der al-Qaida-nahen HTS und von der Türkei unterstützten Rebellen auf der einen und dem Assad-Regime und Russland auf der anderen Seite – hatte sich im Nordwesten Syriens eine trügerische Ruhe breitgemacht.
Das Assad-Regime dürfte sich in Sicherheit gewogen haben – schließlich waren in den vergangenen Jahren besiegte Rebellen und Islamisten unterschiedlichster Lager nach Idlib gebracht worden. Die Liste an internen Kämpfen ist lang. Doch diese Differenzen dürften im Großen und Ganzen beigelegt sein. Vergangene Woche überraschten die Kämpfer der HTS sowohl syrische als auch russische Truppen und starteten eine Offensive auf die Stadt Aleppo, die Ende 2016 von syrischen, russischen und iranischen Truppen zurückerobert worden war. Aleppo fiel rasch, ebenso die Stadt Hama.

Einigen Berichten zufolge hat es bereits im Oktober Hinweise auf eine bevorstehende Offensive gegeben. Diese – so es sie gab – hat der syrische Sicherheitsapparat nicht ernstgenommen. Syrische Soldaten ließen eine Vielzahl an Waffen und Gerät zurück. Die Armee ist schlecht aufgestellt, es gibt Korruption und „Geisterbataillone“ – Einheiten, die nur auf dem Papier existierten, sodass Offiziere deren Sold einstreichen können. Die Besoldung der regulären Soldaten ist schlecht, während Assad-Familienmitglieder in sozialen Netzwerken mit neuen Luxusautos posieren.
Steht das Assad-Regime vor dem Fall?
Aus derzeitiger Sicht scheint dem so zu sein. Irakische Milizen, die Assad zu Hilfe eilen wollten, dürften im Osten des Landes in Gefechte mit der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) verwickelt sein. Verbündete wie die Hisbollah sind massiv geschwächt oder anderweitig beschäftigt (Russland, Iran).
Und die Motivation der syrischen Streitkräfte scheint enden wollend zu sein. In der Stadt Daraa schlossen sich etwa syrische Soldaten den Aufständischen an. Ob dies im großen Stil passiert, kann nicht bestätigt werden. Die Dynamik, die der Vormarsch von HTS und Verbündeten angenommen hat, scheint derzeit unaufhaltsam.
Wer sind die „Rebellen“?
Die Kämpfer der HTS geben sich freundlich. Ausgestattet mit türkischen Generatoren, versorgen sie etwa die Bevölkerung von Aleppo mit mehr Strom, als das unter Assad bisher geschah. Gleichzeitig tauchen Videos von brutalen Massakern an syrischen Soldaten auf. Ebenso Videos von Verschleppungen christlicher oder kurdischer Frauen.
Das Ziel der HTS ist die Errichtung eines Kalifats in Syrien. Ihr Chef, Abu Mohammed al-Julani, kämpfte ab 2003 für die „al-Qaida im Irak“, aus der 2006 der IS hervorging. Im Syrischen Bürgerkrieg kooperierte seine Al-Nusra-Front (später HTS) anfangs mit dem IS. Ein guter Teil der HTS-Kämpfer stammt aus dem Ausland, vornehmlich aus Zentralasien. Fällt Assad, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die verschiedenen Fraktionen der Regimegegner einander weiterhin bekämpfen, denn sie sind beileibe keine homogene Masse, sondern ein Sammelsurium verschiedenster Bündnisse, Splittergruppen und Gotteskrieger. Al-Julani gibt sich derzeit als „geläutert“ und „gemäßigt“ – die Gräueltaten seiner Kämpfer lassen das Gegenteil vermuten.
2011
Das syrische Regime reagiert mit Gewalt auf pro-demokratische Proteste im Land. Dutzende Menschen werden getötet. Zwar verspricht Assad Reformen, doch die Wucht der Proteste wird durch das harte Eingreifen angefacht
2012
Immer mehr syrische Soldaten
desertieren und schließen sich der oppositionellen „Freien Syrischen Armee“ an, die in den ersten Bürgerkriegsjahren Städte wie Hama und Homs einnimmt
2013
Die syrische Regierung setzt bei einem Angriff auf Al Ghouta mutmaßlich Giftgas ein. Mehr als 1.400 Menschen sterben. US-Präsident Obama, der zuvor einen Giftgasangriff als „Rote Linie“ betrachtet hatte, unternimmt nichts
2013/2014
Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) breitet sich rasant in Syrien aus, nimmt die Stadt Raqqa ein
2015
Russland fliegt ab Ende September seine ersten Luftangriffe, erklärt anfangs, dass es ausschließlich den IS angreift. Bald richten sich die Luftschläge ebenso gegen andere islamistische Gruppen,
die gegen Assad kämpfen
2016
Im August startet die türkische Armee in Nordsyrien eine Offensive gegen den IS und die kurdisch dominierten SDF, auf deren Seite US-Soldaten kämpfen. Um zu vermeiden, dass sich zwei NATO-Staaten gegenseitig beschießen, wird eine Truppentrennungszone errichtet, paradoxerweise unter russischer Leitung. Mit der Unterstützung russischer Flugzeuge erobert die syrische Regierung im Dezember Aleppo zurück, einen der wichtigsten Rebellenstützpunkte
2017
Nach Monaten der Bombardierung durch die Koalitionskräfte sowie Bodenangriffen der US-gestützten Demokratischen Kräfte Syriens wird der IS im Oktober aus seiner Quasi-Hauptstadt Raqqa vertrieben
2018/2019
Im Jänner startet die Türkei ihre zweite Offensive in Nordsyrien –dieses Mal dezidiert gegen kurdische Kräfte. Im Herbst 2019 folgt eine dritte Offensive mit dem Namen „Friedensquelle“, die abermals ein großes Gebiet einnimmt
2020
Eine syrische Offensive auf die Rebellenhochburg Idlib ruft die türkische Armee auf den Plan, die den – mittlerweile islamistisch dominierten – Rebellen zur Hilfe kommt. Als die Kämpfe zwischen Türkei und Syrien zu eskalieren drohen, vermittelt Russland einen Waffenstillstand
2024
In einer Überraschungsoffensive nehmen HTS und Verbündete Aleppo, Hama und Homs ein und könnten das Assad-Regime tatsächlich stürzen
Wo wird noch gekämpft?
Im Schatten des Vormarsches der HTS rücken die Kämpfer der „Syrisch Nationalen Armee“ (SNA) gegen Städte und Stellungen der kurdisch dominierten „Syrisch Demokratischen Kräfte“ (SDF) vor.
Die SNA wird von der Türkei bewaffnet und ausgebildet, Kämpfer der SNA zogen für die Türkei sowohl in Bergkarabach aufseiten Aserbaidschans als auch in Libyen aufseiten der Regierung in Tripolis in den Krieg. Bislang konnte die SNA keine nennenswerten Erfolge gegen die SDF verzeichnen, weshalb es nicht als ausgeschlossen gilt, dass die reguläre türkische Armee bald abermals in den Krieg eingreift.
Droht eine neue Flüchtlingswelle?
Fällt das Assad-Regime, werden viele Menschen in Syrien flüchten. Die Frage ist, wohin. Im Libanon und in Jordanien sind vor allem syrische Flüchtlinge, die vor jenem System geflohen sind, das die „neuen“ Flüchtlinge unterstützten. Das dürfte unweigerlich zu massiven Spannungen führen.
Nicht ausgeschlossen ist, dass assadtreue Eliten Asyl in Russland oder im Iran bekommen. Fraglich ist, ob die Millionen syrischen Flüchtlinge in Europa wieder nach Syrien zurückkehren, sollte das Assad-Regime einmal gefallen sein. Die Türkei hat jedenfalls vor, die Syrer im eigenen Land im Norden Syriens anzusiedeln. In Gebieten, die derzeit von den Kurden dominiert werden.
Ausländische Akteure im Syrien-Krieg und deren Ziele
Russland: Ende September 2015 griff das russische Militär aktiv in den Krieg ein, unterstützte Assad und drängte Rebellen und Terrorgruppen zurück. Zehntausende Menschen starben, mit Ende 2016 befand sich Aleppo wieder in der Hand der Assad-Truppen, der Krieg schien mehr oder minder entschieden. Moskau schuf sich damit eine Basis am Mittelmeer und vergrößerte seinen Einflussbereich drastisch. All das steht jetzt für den Kreml auf der Kippe. Es ist unwahrscheinlich, dass Russland derzeit über ausreichende Ressourcen verfügt, Assad zu stützen.
Türkei: Primäres Ziel Ankaras ist es, eine direkte Verbindung der kurdischen SDF in Syrien und der PKK in der Türkei zu kappen. Im Laufe der Jahre unternahm die türkische Armee einige Versuche, eine „Pufferzone“ einzurichten, die Kurden an der Grenze zu besiegen. Allerdings ist die SDF mit den USA verbündet. Derzeit läuft für die Türkei jedoch vieles nach Plan. Eine baldige weitere Militäroperation ist durchaus wahrscheinlich.
USA: Etwa 900 US-Soldaten befinden sich in Syrien – vorrangig im Nordosten, um die SDF zu unterstützen. Zu Beginn des Bürgerkriegs unterstützte Washington „gemäßigte“ Rebellen, die jedoch entweder zur HTS überliefen oder sofort von HTS oder IS besiegt wurden. Mit einem US-Präsidenten Donald Trump dürften die kurdischen SDF keinen verlässlichen Verbündeten haben. Als die Türkei 2019 eine Militäroperation startete, ließ Trump sie mit dem Argument fallen: „Die Kurden haben uns auch nicht im Zweiten Weltkrieg geholfen.“
Iran: Für die Islamische Republik war die Unterstützung für Assad ein außenpolitischer Coup. Damit konnte der Iran eine direkte Verbindung von Teheran nach Beirut herstellen und die Hisbollah massiv mit Waffen beliefern. Im Ringen um die Vorherrschaft in Nahost verpasste der Iran seinem Konkurrenten Saudi-Arabien damit einen schweren Schlag. Weiterer Einfluss in Syrien wäre für Teheran von großer Bedeutung – es ist fraglich, ob dieser unter einer „HTS-Regierung“ möglich wäre.
Israel: Israel hat ein Interesse, zu verhindern, dass proiranische Milizen am Golan stehen. Was dem Iran schadet, ist aus Sicht Jerusalems nicht schlecht. Dennoch stockte Israel seine Militärpräsenz am Golan auf.
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