Anschlag in Istanbul: Machtlosigkeit am Bosporus

Die Worte am Eingang des Nobel-Nachtclubs Reina schockieren nach der Silvesternacht.
Polizeigroßaufgebot konnte Anschlag auf Nobelclub mit 39 Toten nicht verhindern.

17.000 Polizisten waren in der Silvesternacht in Istanbul im Einsatz. Ein Blutbad nur wenige Hundert Meter von den offiziellen Silvesterfeierlichkeiten in der Bosporus-Metropole entfernt konnten sie dennoch nicht vereiteln. Hier, im spektakulär gelegenen Nachtclub "Reina", einem bei Touristen beliebten Treffpunkt von Reich und Schön am Bosporus-Ufer, feierten an die 800 Gäste. Das neue Jahr war gerade 75 Minuten alt, als ein laut Augenzeugen angeblich als Weihnachtsmann verkleideter Mann (was die Behörden dementierten) mit einem Gewehr das Feuer auf die Sicherheitsleute vor dem Eingang des Nachtclubs eröffnete. Sie konnten ihn nicht aufhalten.

Hintergrund: Was wir bisher über den Anschlag wissen

Angst und Panik

Der Angreifer schoss wahllos in die Menge. Panik brach aus. "Links waren Schüsse zu hören, also rannten wir nach rechts", berichtete Profifußballer Sefa Boydas. Mehrere Frauen seien in Ohnmacht gefallen, darunter auch eine seiner Begleiterinnen. "Ich hab sie auf den Rücken genommen und bin sofort gerannt. In solchen Momenten wartet man nicht." Alle rennen – auch über auf dem Boden liegende Menschen. "Mein Mann sagte mir, ich soll ja keine Angst haben. Er ist auf mich gesprungen. Die Menschen sind über mich hinweggelaufen. Mein Mann wurde an drei Stellen angeschossen", erzählt eine Augenzeugin der türkischen Zeitung Hürriyet.

"Ich hatte noch gar nicht verstanden, was los ist, als mein Mann umfiel und auf mich stürzte", berichtet Sinem Uyanik der AP. Dann seien weitere Menschen auf sie gefallen, berichtet die geschockte Überlebende. Und: "Ich musste mehrere Körper wegheben, um aufstehen und flüchten zu können." Sinem Uyanik kam mit dem Schrecken davon, ihr Mann Lutfu wurde verletzt. Andere Gäste sprangen in ihrer Angst ins eiskalte Wasser des Bosporus. Sie wurden von den rasch herbeieilenden Polizei- und Rettungskräften geborgen. Auch Spezialeinheiten waren rasch vor Ort, dennoch gelang dem oder den Attentätern die Flucht - die Fahndung läuft auf Hochtouren.

Anschlag in Istanbul: Machtlosigkeit am Bosporus
Women who survived an attack by a gunman, react outisde the Reina nightclub by the Bosphorus, in Istanbul, Turkey, January 1, 2017. REUTERS/Huseyin Aldemir

Die vorläufige Bilanz der Schreckensnacht: Mindestens 39 Menschen wurden getötet, weitere 65 mussten mit Verletzungen ins Spital gebracht werden. Unter den vorerst 20 identifizierten Todesopfern waren fünf Türken sowie 15 Ausländer aus Belgien, Israel, Jordanien, dem Libanon, Libyen, Marokko, Saudi-Arabien und Tunesien. Auf österreichische Opfer gab es vorerst keine Hinweise, ließ das Außenamt in Wien wissen.

Hinter der Tat wird die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) vermutet, die im Vorjahr – wie auch die kurdische Splittergruppe TAK – mehrmals in der Türkei zugeschlagen hat (siehe Artikel unten). Womöglich hatte der IS zu Silvester sogar einen Doppelanschlag beabsichtigt: In Ankara wurden laut Hürriyet acht IS-Kämpfer festgenommen, die in der Nacht einen Anschlag geplant hätten.

Ziel der Angreifer, sagte Staatschef Recep Tayyip Erdoğan, sei es, "Chaos" zu stiften, doch die Türkei werde diese "schmutzigen Spiele" nicht zulassen.

Anschlag in Istanbul: Machtlosigkeit am Bosporus

In den vergangenen zwei Jahren ist die Türkei immer wieder von schweren Anschlägen erschüttert worden. Verantwortlich für die Attentate waren meist die Jihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) oder die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und ihre radikale Splittergruppe Freiheitsfalken Kurdistans (TAK).

20. Juli 2015: 34 Menschen werden bei einem Anschlag auf junge kurdische Aktivisten in Suruc an der Grenze zu Syrien getötet. Die Regierung macht die IS-Miliz für die Tat verantwortlich.

10. Oktober 2015: Während einer prokurdischen Friedenskundgebung vor dem Hauptbahnhof in Ankara reißen zwei Selbstmordattentäter der IS-Miliz 103 Menschen in den Tod. Mehr als 500 Menschen werden verletzt.

12. Jänner 2016: Bei einem Selbstmordanschlag auf eine Touristengruppe im touristischen Zentrum Istanbuls werden zwölf Deutsche getötet. Die Regierung gibt der IS-Miliz die Schuld für den Anschlag vor der Blauen Moschee.

17. Februar 2016: Bei einem Anschlag mit einer Autobombe auf einen Militärkonvoi in der Hauptstadt Ankara werden 28 Menschen getötet. Die TAK bekennt sich zu dem Anschlag.

13. März 2016: Mindestens 34 Menschen werden bei der Explosion einer Autobombe im Zentrum von Ankara getötet, Dutzende verletzt. Auch dazu bekennt sich die TAK.

19. März 2016: Auf der beliebten Istiklal-Einkaufsstraße im Zentrum von Istanbul reißt ein Selbstmordattentäter vier ausländische Touristen - drei Israelis und einen Iraner - mit in den Tod. Die Behörden vermuten die IS-Miliz hinter der Tat.

7. Juni 2016: Durch einen Bombenanschlag werden im historischen Zentrum Istanbuls elf Menschen getötet, darunter sieben Polizisten. Zu dem Anschlag bekennt sich die TAK.

8. Juni 2016: Die Explosion einer Autobombe tötet sechs Menschen vor einem Polizeirevier in Midyat im Südosten der Türkei. Zu der Tat bekennt sich die PKK.

28. Juni 2016: Bei einem dreifachen Selbstmordattentat auf den Istanbuler Atatürk-Flughafen werden 47 Menschen getötet und mehr als 200 Menschen verletzt. Die Regierung macht die IS-Miliz verantwortlich.

18. Juli 2016: Bei einer Anschlagserie der PKK-Guerilla auf Sicherheitskräfte im Südosten des Landes werden 14 Menschen getötet und 300 weitere verletzt.

20. Juli 2016: Bei einem Anschlag eines IS-Attentäters auf eine kurdische Hochzeitsgesellschaft in Gaziantep im Südosten der Türkei werden 57 Menschen getötet, darunter 34 Kinder.

26. August 2016: Ein PKK-Attentäter sprengt sich vor dem Polizeipräsidium in Cizre im kurdischen Südosten der Türkei in die Luft und reißt elf Polizisten in der Tod.

12. September 2016: Eine Autobombe explodiert vor der Zentrale der Regierungspartei AKP in Van. 48 Menschen werden verletzt. Die Regierung macht die PKK verantwortlich.

9. Oktober: In der südosttürkischen Provinz Hakkari bringt ein Attentäter einen mit Sprengstoff beladenen Kleinlaster vor einem Kontrollposten der Gendarmerie zur Explosion.

4. November 2016: Vor dem Polizeihauptquartier in Diyarbakir werden neun Menschen getötet. Die Regierung macht die PKK verantwortlich, doch bekennt sich auch die IS-Miliz dazu. Zu der Explosion war es kurz nach den Festnahmen von zwölf Abgeordneten der pro-kurdischen HDP gekommen.

10. Dezember 2016: Nach einem Fußballspiel im zentralen Istanbuler Stadtteil Besiktas töten zwei Selbstmordattentäter der TAK 45 Menschen, die meisten von ihnen Polizisten.

17. Dezember 2016: In der zentraltürkischen Stadt Kayseri kommen bei einem Selbstmordanschlag mindestens 13 Soldaten ums Leben. Der Attentäter hat eine Autobombe neben einem Bus mit Militärangehörigen gezündet haben. Auch hierzu bekennt sich die TAK.

19. Dezember 2016: wird der russische Botschafter Andrej Karlow in Ankara von einem türkischen Polizisten niedergeschossen. Die türkische Regierung verdächtigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Attentat zu stecken.

1. Jänner 2017: Bei einem Anschlag auf den angesagten Istanbuler Nachtclub "Reina" werden mindestens 39 Menschen getötet, darunter mindestens 15 Ausländer.

- Papst Franziskus gedachte nach seiner Neujahrsmesse der Opfer. "Leider hat die Gewalt auch wieder in dieser Nacht der Wünsche und der Hoffnung zugeschlagen“, sagte der Pontifex beim traditionellen Angelusgebet vor rund 50.000 Gläubigen.

- Der russische Präsident Wladimir Putin sicherte der Türkei seine Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus zu. "Es ist unsere Pflicht, entschlossen Widerstand gegen die terroristische Aggression zu leisten“, schrieb Putin in einem Telegramm an Erdogan. "Es ist schwer, sich ein zynischeres Verbrechen vorzustellen als den Mord an Zivilisten auf dem Höhepunkt des Neujahrsfestes."

- Die US-Regierung sprach von einer Gräueltat. "Wir bekräftigen die Unterstützung der USA für die Türkei, unserem NATO-Verbündeten, in unserer gemeinsamen Entschlossenheit, alle Arten von Terrorismus zu bekämpfen und zu besiegen", erklärte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, Ned Price. Präsident Barack Obama bot den türkischen Behörden Hilfe an.

- Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sagte: Die deutsche "Kanzlerin (Angela, Anm.) Merkel hat am Wochenende gesagt, was wir schon seit vielen Jahren sagen: Dass die größte Bedrohung der globalen Zukunft der Terror des radikalen Islam ist." Der Anschlag in Istanbul beweise dies erneut.

- Die EU-Außenbeauftragte Frederica Mogherini schrieb auf Twitter: "2017 startet mit einem Angriff in Istanbul. Unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Wir arbeiten weiter daran, solche Tragödien zu verhindern."

- NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte, seine Gedanken seien bei denjenigen, die vom Angriff betroffen seien und beim türkischen Volk.

- Angela Merkel (CDU) kondolierte Erdogan. Sie sagte: "Wieder haben Terroristen in Ihrem Land zugeschlagen. In Istanbul haben sie einen menschenverachtenden, hinterhältigen Anschlag auf Menschen verübt, die gemeinsam den Jahreswechsel feiern wollten. Ich verurteile diesen Anschlag und übermittele Ihnen mein Beileid."

- Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck schrieb an Erdogan: "Mit Trauer und Entsetzen habe ich von dem Angriff auf friedlich feiernde Menschen in der Neujahrsnacht in Istanbul erfahren, dem so viele zum Opfer gefallen sind. Diese perfide Tat verurteile ich auf das Schärfste."

- Der Generalsekretär des Europarats, Thorbjörn Jagland, erklärte, der Europarat stehe "in diesen tragischen Zeiten" an der Seite des türkischen Volks.

- Frankreichs Außenminister Jean-Marc Ayrault verurteilte die "feige und niederträchtige Attacke".

- Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP), der amtierende Vorsitzende der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), und OSZE-Generalsekretär Lamberto Zannier verurteilten in einer Aussendung der Organisation den Angriff auf den Nachtclub in Istanbul.

- Der designierte Bundespräsident Alexander Van der Bellen verurteilte ebenfalls den Anschlag. "Eine verabscheuenswerte Tat", schrieb Van der Bellen am Sonntag in der Früh im Kurznachrichtendienst Twitter. Sein "Mitgefühl ist bei den Opfern und ihren Angehörigen".

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