"Wir schaffen das": Fünf Jahre nach Merkels legendärem Satz - eine Bilanz
"Ich sitze noch hier, geschafft hat mich eigentlich nichts." So lautete Angela Merkels Antwort jüngst auf die Frage einer Journalistin, welche Krise sie im Laufe ihrer Kanzlerschaft am meisten geschafft hat. Eine davon, als Zehntausende Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Armut flohen, nach Europa bzw. Deutschland kamen, liegt fünf Jahre zurück.
Am 31. August 2015 fiel Merkels Satz in ihrer Sommerpressekonferenz, der verkürzt zu einem Credo wurde, das manche bewunderten und andere (auch in den eigenen Reihen) provozierte: "Wir schaffen das". Rückblickend würde sie vieles wieder so machen, sagt sie.
Wie die Zusage an den damaligen österreichischen Kanzler Werner Faymann, auf dem Budapester Bahnhof festsitzende Flüchtlinge aufzunehmen – die Grenzen also offen zu halten und den Nachbarn nicht alleine zu lassen. "Wenn Menschen vor der Grenze stehen", antwortet sie, "dann muss man sie als Menschen behandeln." Mehr als eine Million Geflüchteter lebt seither in Deutschland – was hat sich verändert?
Integration: "Wenn man sich mit Integrationsfragen beschäftigt, sind fünf Jahre kein Zeitraum, da rechnet man in Generationen", sagt Olaf Kleist, Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Flucht- und Flüchtlingsforschung. Was sich bisher doch sagen lasse: Es sei viel geschafft worden, vor allem durch das ehrenamtliche Engagement der Zivilgesellschaft, so Kleist. Städte und Gemeinden hätten sich gemeldet, um Menschen aufzunehmen, und Sprachkurse, Wohnungssuche und Arbeitsvermittlung zu organisiert. Positiv sei, dass drei Viertel der Geflüchteten in Wohnungen oder Häusern lebten – "trotz der allgemeinen Wohnungsknappheit".
Arbeitsmarkt: Laut Institut für Wirtschaftsforschung sind Geflüchtete am deutschen Arbeitsmarkt gut integriert worden: Waren 2016 noch 14 Prozent erwerbstätig, sind es 2018 43 Prozent. Gründe, warum das Ankommen am Arbeitsmarkt dennoch dauert: Asylverfahren ziehen sich, die Sprache muss erlernt werden, Schul- oder Berufsabschlüsse müssen anerkannt bzw. nachgeholt werden. Was sich ebenfalls zeige: Es sind mehr Männer als Frauen, die arbeiten, sagt Forscher Kleist – "was oft mit ihrer Rolle in der Familienversorgung begründet wird". Hier gebe es Nachholbedarf: "Gezielte Fortbildungsmaßnahmen mit Kinderbetreuung könnten helfen." Unklar sei derzeit allerdings, wie sich die Folgen der Corona-Pandemie auf die Beschäftigungsverhältnisse auswirken: Viele Flüchtlinge hätten zuletzt ihren Job verloren, da sie in vom Lockdown betroffenen Branchen wie Hotellerie und Gastronomie arbeiteten.
Asylpolitik: Eine Obergrenze von 180.000 bis 220.000 Flüchtlingen pro Jahr, Beschränkung des Familiennachzuges, eine Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten und Massenunterkünfte zur schnellen Abwicklung von Asylverfahren – die deutsche Bundesregierung hat ihre seit 2015 Asylpolitik verschärft. Kritik kam von NGOs wie Experten, die verfassungsrechtlich bedenkliche Ad-hoc-Maßnahmen sehen. "Es zeigt sich etwa, dass gerade Syrer, die anerkannten oder subsidiären Status haben, dauerhaft bleiben werden, da wirkt es integrationshindernd, wenn die Familie nicht nachkommen darf", analysiert Kleist. Ähnlich schwierig ist die Lage für jene, deren Abschiebungen nicht stattfinden können (durch Krankheit, fehlende Papiere oder, weil sie ihre Herkunftsländer nicht zurücknehmen wollen): Sie bleiben sim Land, Familiennachzug ist allerdings ausgeschlossen, erhalten auch nicht dieselben Sozialleistungen wie Asylberechtigte oder anerkannte Flüchtlinge.
Innere Sicherheit: Die Kriminalität von Zuwanderern (Menschen mit Asylstatus, Duldung oder unerlaubtem Aufenthalt) ist zwischen 2015 und 2016 zwar von 6,5 auf 9,7 Prozent gestiegen, aber seither rückläufig. Das zeigt die Statistik von Innenministerium und Bundeskriminalamt. Dennoch haben Ereignisse wie die Silvesternacht in Köln, als Frauen am Hauptbahnhof von Migranten bedrängt wurden, oder der Mordfall an einer 14-Jährigen durch einen Ausreisepflichtigen das Stimmungsbild beeinflusst. Und durchaus dazu beigetragen, "dass Flucht als problematisch wahrgenommen wird", sagt Simon Goebel vom Zentrum Flucht und Migration Eichstätt-Ingolstadt.
Stimmung: Die Politisierung der Flüchtlingsankunft im Herbst 2015 hat auch die politischen Machtverhältnisse geändert: Seit 2017 sitzt die AfD im Bundestag, nachdem sie sich ganz der Asylthematik verschrieben hat. Geht es nach Spiegel-Journalistin Melanie Amann, AfD-Kennerin, gab es die Partei schon lange vor ihrer Gründung: nämlich als dumpfes Gefühl, das der Ex-SPD-Politiker Thilo Sarrazin mit seinen Thesen zu Migranten aufgegriffen hat – und auf das die islamfeindliche Bewegung Pegida sowie die AfD aufgesprungen seien.
Simon Goebel sieht das Erstarken der Partei aber auch darin, dass sich die anderen Parteien spät bis wenig abgegrenzt hätten: "Sie haben versucht, sie zu verhindern, indem sie ihre Argumente übernommen haben. Die Menschen wählten aber das Original." Man hätte stattdessen auch auf eine lösungsorientierte Rhetorik setzen können: "Migration wird als Problem dargestellt. Die Menschen nicht als Individuen, sondern als Zahlen gesehen, die verringert werden müssen." Goebl, der sich auch mit Mediendiskursen beschäftigt, stellt zudem ein Ungleichgewicht in der Berichterstattung fest: Geflüchtete kommen nur selten zu Wort – "es wäre aber wichtig, um mehr Perspektiven zu bekommen und eine gewisse Diskursverschiebung voranzubringen".
Europa: Seit 2015 wird verhandelt und gestritten – doch die Fronten sind verhärtet. Eine gemeinsame EU-Linie in der Asyl- und Migrationspolitik ist nicht in Sicht. Der Beschluss einer verbindlichen Aufnahmequote scheiterte an Mitgliedern wie Ungarn, Polen, der Slowakei und Tschechien, die dies kategorisch ablehnen. 2016 handelte man schließlich einen Deal mit der Türkei aus. Er sah u. a. Vereinbarungen zur Rückführung, Verteilung von Flüchtlingen, Visafreiheit für Türken und die EU-Beitrittsverhandlungen vor. Darüber gibt es aber immer wieder Streit – und der türkische Präsident Tayyip Erdoğan nutzt das Abkommen, um Druck aufzubauen, droht damit, Flüchtlinge an die griechische Grenze zu bringen.
Die deutsche Kanzlerin Merkel erklärte, dass die Migrationspolitik einer der Schwerpunkte ihrer EU-Ratspräsidentschaft sein soll: "Es gibt noch kein in sich geschlossenes System."
Einer der bekannten Vorschläge der Bundesregierung: Asylzentren an der EU-Außengrenze, wo Anträge geprüft werden, sei eine Fortsetzung der Hotspots und Lager, die zu Slums verkommen, sagt Migrationsexperte Olaf Kleist. Er spricht sich für ein gezieltes Aufnahmeprogramm aus, wo Menschen vor der Einreise registriert werden, dann Visa erhalten und auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden bzw. in aufnahmebereite Länder.
Abkommen mit nordafrikanischen Ländern sieht er kritisch: "Die EU begibt sich in eine Abhängigkeit, wie man beim Abkommen mit der Türkei sieht. Das kann teuer werden. Zudem gibt es keine Garantie auf humane Behandlung der Schutzsuchenden." Er befürchtet, dass das Thema trotz deutscher Ratspräsidentschaft wegen der Pandemie in den Hintergrund rückt. Zuletzt passierte dies nach einem Vorstoß Deutschlands, sich freiwillig an der Aufnahme von unbegleiteten und kranken Minderjährige aus den überfüllten griechischen Lagern zu beteiligen. Einige Länder wie Frankreich und Luxemburg haben sich beteiligt, doch dann kam das Programm ins Stocken.
890.000 Geflüchtete kamen 2015 nach Deutschland. Ende 2019 lebten dort 1,8 Millionen Schutzsuchende – also Menschen, die einen Asylantrag gestellt haben bzw. sich aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen im Land aufhalten. Davon haben 1,36 Millionen einen anerkannten Status, 266.000 Menschen befinden sich in einem Asylverfahren. 272.000 Menschen gelten als "ausreisepflichtig" – davon sind 64 Prozent abgelehnte Asylwerber, der Rest sind ausländische Studenten, Arbeitnehmer oder Touristen ohne Visa
Herkunftsstaaten: Laut dem deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge kamen von 2015 bis 2019 die meisten Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Iran, Irak und Eritrea
Weniger Anträge: Im Jahr 2019 haben 111.094 Menschen einen Asylerstantrag gestellt. Das sind 18.534 weniger Erstanträge als im Vorjahr, ein Rückgang also um 14,3 Prozent
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