Merkels Moment der Wahrheit

Angela Merkels Sager: eine Ohrfeige für die Kritiker, aber auch ein Wagnis.
Der emotionale Sager der deutschen Kanzlerin ist eine Ohrfeige für die CSU – und er hat Sprengkraft.

Die Verwaltungskanzlerin, die Ungefähre, die Pragmatikerin: Angela Merkel, die sonst nie mit reißerischen Sagern oder gar Gefühlsausbrüchen glänzt, hat am Dienstag mit nur einem Satz all ihre Beobachter in Staunen versetzt. "Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt noch anfangen müssen, uns dafür zu entschuldigen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land."

Merkels Moment der Wahrheit
German Chancellor Angela Merkel (R), German Economy Minister Sigmar Gabriel (2nd R) and Bavarian State Premier Horst Seehofer (L) arrive for a meeting of German state leaders to discuss the migrant crisis at the chancellery in Berlin, Germany, September 15, 2015. REUTERS/Hannibal Hanschke
Da war er, der Kanzlerinnenmoment. Ein Satz, den ihr ihre Redenschreiber nicht vorgaben, der bei der Pressekonferenz mit Werner Faymannungeplant aus ihr herausbrach – als Antwort auf die populistischen Töne aus Bayern: Seit Tagen macht CSU-Chef Seehofer Druck auf sie, in der Flüchtlingskrise endlich Flagge nach seinem Geschmack zu zeigen – Merkels Idee der Freundlichkeit kommt in seinem Konzept erst an hinterer Stelle vor.

Große Klappe

Der Schritt, Bayern mit Grenzkontrollen zu entlasten, war sicherlich Zeichen des Entgegenkommens und der Überforderung zugleich. Dass Seehofer das aber auch medial ausschlachtete, war Merkel dann zu viel. "Politische Schläue endet für die Protestantin Merkel, wo Menschenleben gegen Wählerstimmen ausgespielt werden", kommentiert der Berliner Publizist Hajo Schumacher. "Umso grantiger wird Merkel, wenn ihre durchaus bewährte Politik der kleinen Schritte von großen Klappen begleitet werden."

Der Satz war aber nicht nur grantige Antwort, sondern auch eine große Ansage – ähnlich wie 2011, als Merkel angesichts der Katastrophe von Fukushima nicht verbergen konnte, wie sehr ihr die Lage zusetzte. "Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen", sagte sie damals höchst emotional – auch ein Satz, der bis heute blieb. Ebenso wie die Folgen: der Atomausstieg – eine Kehrtwende, beispiellos in der Geschichte der CDU. Beobachter prophezeiten Merkel damals einen Absturz – sie täuschten sich: Der Schwenk, geleitet von einem Bauchgefühl, nutzte ihr. Er brachte die CDU von einem 30-Prozent-Umfragetief auf 40 Prozent Wählergunst.

Neue Emotionen

Der Satz, Deutschland wäre nicht mehr ihr Land, wenn es den Flüchtlingsstrom nicht aushalten könne, birgt zumindest ebenso viel Sprengkraft wie die Kehrtwende damals, klingt er doch wie eine Drohung. Manch Beobachter vergleicht ihn gar mit dem Moment, als Gerhard Schröder 2003 im Bundestag seine Agenda 2010 durchboxte – er machte damit aus dem "kranken Mann Europas" zwar ein prosperierendes Land, innenpolitisch endete dies aber in seinem Untergang: Er musste das Kanzleramt bald darauf an Angela Merkel abtreten.

Für sie ist der Satz somit ein doppelter Moment der Wahrheit – zum einen, weil sie ungefiltert aussprach, was ihr am Herzen lag; zum anderen, weil er sie angreifbar macht – denn gerade das Fehlen von Emotionen machte Merkel so lange unantastbar. In der Flüchtlingsfrage zieht sie nun ihre Linie durch – Kurskorrekturen inklusive, denn auch die zeugen von emotionalem Herangehen.

"Merkels Politikstil gerät in dieser Krise an seine Grenze", schreibt der Spiegel. Bleibt abzuwarten, ob die Wähler diesen neuen Stil nicht doch goutieren.

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