American Dream in Neuauflage

Chattanooga - einst die verschmutzteste Stadt der USA.
Wie aus der dreckigsten Stadt Amerikas eine innovative Tourismusmetropole wurde.

Morgens war die Stadt grau – und abends war sie unsichtbar. Wenn sich Mike an den Blick aus dem Zimmer seiner Kindheit erinnert, dann fällt ihm als erstes der Smog ein. Der heute 60-jährige Maschinenbauer ist in den Hügeln über Chattanooga aufgewachsen, "aber die Stadt haben wir kaum gesehen, so schmutzig war die Luft."

Reinweiß musste das Hemd für seine Schuluniform sein. Doch wenn Mike am Nachmittag heimkam, war die einzige weiße Stelle dort, wo die Krawatte hing. Der Rest war aschgrau, so wie fast alles in Chattanooga in den Siebzigerjahren. Man galt offiziell als "schmutzigste Stadt Amerikas".

Den Dreck, den nahm man damals gerne in Kauf. Schließlich wurde der in der Stadt am Tennessee-Fluss von einer Industrie ausgespuckt, die seit Jahrzehnten ohne Luft zu holen boomte: Stahl, Textilien, Maschinen und die riesigen Abfüllanlagen für Coca Cola.

Am Anfang dieser Erfolgsgeschichte, wie man sie hier im einst wilden Westen Tennessees erzählt, standen "der Fluss und die Eisenbahn". Genau was man brauchte, um Güter von Westen nach Osten zu befördern. Ein Handelsplatz entstand.

Cola als Kopfwehmittel

Was Chattanooga wirklich groß machen sollte, war die Keckheit einiger Bürger. Die reisten 1900 nach Atlanta und besuchten einen Apotheker, der ein Getränk namens Coca Cola erfunden hatte. Da der das Zeug für "ein Mittel gegen Kopfweh" hielt, verkaufte er ihnen die Rechte, Cola in Flaschen zu füllen.

American Dream in Neuauflage
Chattanooga
Der Rest ist Geschichte. Chattanoogas Erfolgsgeschichte. Die Züge mit Coca Cola, Textilien oder Eisenbahnschienen rollten bald überall hin in die USA. So bekannt waren die Züge aus Chattanooga, dass ihnen Jazzmeister Glenn Miller sogar einen Song widmete: "Chattanooga Choo Choo".

Doch wie viele Industriestädte im Südosten Amerikas fing auch "der Dynamo von Dixie-Country", in den Siebzigerjahren zu stottern an. Schwer- und Textilindustrie wanderten in billigere Länder ab, Coca Cola wurde weltweit in Flaschen gefüllt und die Rechte dafür brachten kaum mehr Geld ein.

Industriesterben

Ein Drittel der Jobs ging verloren. Wer konnte, zog weg, oder zumindest in die sauberen Vororte. Übrig blieb eine Stadt voller abgewrackter Fabriken, leer stehender Häuser und einer von da an einzigen Wachstumsbranche: Kriminalität.

Es gibt Dutzende Städte in den USA, die in dieser Stagnation stecken geblieben sind: Von Ohio bis Tennessee und quer durch die Bergkette der Appalachen, der einstigen Herzkammer der US-Schwerindustrie. Sie sind heute geprägt von Drogenproblemen und Abwanderung. Es sind die Hochburgen für Präsidentschaftskandidat Donald Trump.

Chattanooga aber ging einen anderen Weg. "Wir hatten immer schon die verrückteren Ideen und irgendwer hatte dafür auch ein offenes Ohr", macht sich Tourismus-Chefin Shelda Rees ihre Gedanken über die Neuerfindung von Chattanooga.

Und es kam ein bisschen Startkapital dazu. Die Erben des Coca-Cola-Imperiums versprachen eine zweistellige Millionensumme für den Neustart. Den nahm ab Anfang der Achtzigerjahre eine Planungsgruppe aus Bürgern, Politikern und externen Experten in Angriff.

Das größte Aquarium

Man beschloss die Stadt für Touristen und neue Technologien interessant zu machen. Und dafür brauchte man eine Attraktion der Superlative. 1992 wurde das größte Frischwasser-Aquarium der Welt eröffnet. Es wurde nicht nur rasch zum Ziel von jährlich mehr als einer Million Touristen, sondern auch zum Beweis für die Menschen in Chattanooga, dass es ihre Stadt tatsächlich ein zweites Mal schaffen könnte.

Auch die Zielrichtung war klar: Als ehemals schmutzigste Stadt Amerikas wollte man jetzt eine der saubersten und grünsten werden.

"Es hat sich bei uns eine Grundhaltung durchgesetzt, dass man Dinge hinkriegen kann, wenn man nur mutig genug denkt", erklärt Allyson Witt die neue Mentalität. Die 29-Jährige ist selbst das beste Beispiel dafür. Sie hat in der ganzen Stadt ein System für Leihfahrräder etabliert – "und damit waren wir früher dran als New York". Jetzt arbeitet sie an einem ähnlichen Netzwerk für Elektroautos. In anderen Städten streitet man über jede Ladestation, in Chattanooga stellt man sie auf. Auch die öffentlichen Autobusse in der Stadt sind elektrisch – und das im Süden der USA, wo das Auto eigentlich als einziges ernst zu nehmendes Fortbewegungsmittel gilt.

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Chattanooga
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chatanooga
Junge Architekten haben die alten Backstein-Fabriken in Hotels und Einkaufszentren verwandelt, das Flussufer ist eine Sport- und Ausgehzone geworden. Und die Ideen gehen nicht aus, denn nach Chattanooga wandern – anders als in den meisten Städten der Region – junge Leute zu. Hohe Lebensqualität, im Vergleich zu Großstädten niedrige Lebenskosten und eine wie Allyson stolz meint, einzigartige Weise, mit Ideen umzugehen: "Diese Stadt weiß, dass sie Ideen braucht. Wenn du eine hierher mitbringst, wird sie sich jemand auch anhören."

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