Syrien: "Es ist der Tag des Jüngsten Gerichts"

Aleppo, der Kampf um die syrische Großstadt endet.
Die ehemalige syrische Handelsmetropole Aleppo ist verwüstet. Das Regime von Bashar al-Assad kontrolliert bereits weite Teile der Stadt. Doch der Fall Aleppos bedeutet nicht das Ende des blutigen Bürgerkriegs.

Es rauscht und klickt, doch seine zitternde Stimme ist klar zu hören. Das Bild ist verzerrt und wackelt, doch die Verzweiflung ist ihm anzusehen. "Niemand kann uns sagen, was wir machen sollen", sagt Abdul Kafi Alhamado. "Bomben, Bomben, überall nur Bomben. Menschen laufen, liegen verletzt in den Straßen, niemand kann ihnen helfen." Er selbst habe sein Leben riskiert, als er sein Haus im Osten Aleppos verlassen hat, um in das Internetcafé zu kommen, sagt er. Niemand hier könne "zehn oder zwanzig Meter" gehen, weil alles, was sich bewegt, ein Ziel sei.

Der Englischlehrer in Aleppo spricht in einer Videonachricht, die am Montag veröffentlicht wurde, über Straßenschlachten, Bombardements, über Tote und Verletzte. Er sitzt im Osten der Stadt, wo sich Rebellen und syrischen Soldaten seit Wochen bekämpfen; wo Menschen verzweifelt auf Hilfe warten. Plötzlich ein Knall. Abdul Kafi Alhamado zuckt zusammen, schaut nach oben, vergewissert sich, ob das Dach noch da ist. Der Mann weiß, es könnte jedes Mal der letzte Knall sein, den er hört. "Es ist der Tag des Jüngsten Gerichts", sagt er und schaut in die Kamera. Das Bild flackert.

QAL7yCHjE2s Aleppo, eine zerstörte Stadt

In den vergangenen Tagen kursierten viele Botschaften wie jene von Abdul in den Sozialen Medien. Bewohner in den umkämpften Stadtvierteln von Aleppo flehten um Hilfe. "Es ist unser letztes SOS", schrieb einer. Menschen seien unter Trümmern gefangen, ohne dass ihnen geholfen werden könne, ein anderer. Unaufhörliche Luftangriffe, laute Explosionen in den Straßen, Artilleriefeuer überall und jederzeit. Die Gewalt, die in der syrischen Stadt allgegenwärtig ist, können sich Menschen außerhalb Syriens nicht vorstellen. Nachrichten gehen vorüber, Bilder verblassen, aber der Krieg hinterlässt Tote, Verletzte und Flüchtlinge.

Mitte November hatte die syrische Armee eine Offensive auf die Rebellengebiete in Aleppo gestartet, um die Opposition aus dem Osten der Stadt zu vertreiben. Nach Angaben der Vereinten Nationen haben mehrere Tausend Menschen die umkämpften Stadtviertel verlassen und befinden sich seitdem auf der Flucht. Die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana berichtete zuletzt, dass allein seit Sonntag rund 13.000 Zivilisten in die von der Regierung kontrollierten Gebiete geflohen seien. Mehr als 700 Kämpfer sollen zudem ihre Waffen niedergelegt haben.

https://images.kurier.at/46-88795346.jpg/235.559.412 APA/AFP/STRINGER TOPSHOT-SYRIA-CONFLICT-ALEPPO TOPSHOT - Fighters of the Free Syrian Army fire an anti-aircraft weapon in the rebel-held Mashhad area in southeastern Aleppo, on December 12, 2016, as they battle Syrian government forces during an operation to retake the embattled city. The crucial battle for Aleppo entered its "final phase" after Syrian rebels retreated into a small pocket of their former bastion in the face of new army advances. The retreat leaves opposition fighters confined to just a handful of neighbourhoods in southeast Aleppo, the largest of them Sukkari and Mashhad. / AFP PHOTO / STRINGER

Doch egal wohin die Bewohner flüchten, Aleppo ist verwüstet. Nichts erinnert mehr an die Metropole von früher. Mit seinen engen Basar-Gassen um die mittelalterliche Zitadelle im Zentrum der Altstadt, seinen Badehäusern, Moscheen und Kirchen. Aleppo galt als Inbegriff der orientalischen Stadt und war ein beliebtes Ziel für Touristen aus aller Welt. Die Zwei-Millionen-Stadt im Norden Syriens war das kommerzielle und wirtschaftliche Zentrum des Landes. Heute ist Aleppo das Symbol für den seit fast sechs Jahren anhaltenden Bürgerkrieg in Syrien. Seit Beginn der Kämpfe zwischen Regime und Rebellengruppen ist die Stadt geteilt und zugleich das am schwersten umkämpfte Gebiet. Während die Rebellen den Osten einschließlich Teile der Altstadt eroberten, behielten die Regierungstruppen den Westteil unter ihrer Kontrolle. Bei den Kämpfen wurden die Basar-Viertel, die Freitagsmoschee sowie auch die Zitadelle teils schwer beschädigt - vom Weltkulturerbe der Altstadt dürfte nicht viel übrig sein.

Bis zuletzt war Aleppo die letzte urbane Hochburg der Rebellen. Damaskus und Homs sind fest in der Hand der Truppen von Syriens Präsident Bashar al-Assad. Den Aufständischen würde ohne die zweitgrößte Stadt des Landes nur noch einige eher ländliche Gebiete wie etwa die Provinz Idlib bleiben, westlich von Aleppo (siehe Interview unten).

Die Schlacht endet, doch der Krieg geht weiter

Das scheint auch der Fall zu sein. Denn der Kampf um Aleppo habe sein Ende erreicht, meinen viele Experten. Der Direktor der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR), Rami Abdel Rahman, sprach von einem "vollständigen Zusammenbruch". Die Rebellen hätten sich aus ihren letzten Hochburgen in der umkämpften Großstadt zurückgezogen, die syrische Armee kontrolliere bereits mehr als 90 Prozent von Ost-Aleppo, und die gesamte Altstadt. Ein Sprecher des Militärs kündigte bereits die Niederlage der Rebellen an.

https://images.kurier.at/46-88797266.jpg/235.559.415 REUTERS/OMAR SANADIKI Govermental Syrian forces fires into sky as celeb Govermental Syrian forces fire into sky as celebrating their victory against rebels in eastern Aleppo, Syria December 12,2016. REUTERS/ Omar Sanadiki

Damit steht auch der von Russland und dem Iran unterstützte Assad unmittelbar vor seinem wichtigsten Sieg seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs 2011. Dass der syrische Machthaber nach dieser Eroberung noch gestürzt werden kann, glaubt fast niemand mehr. Assad hätte nämlich nicht nur weite Teile des fruchtbaren Gebiets in seiner Hand, sondern auch alle Trümpfe für die bevorstehenden Friedensverhandlungen. Es hängt von ihm ab, wie lange der Krieg noch dauert, sagte Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger kürzlich im kurier.at-Gespräch. "Wenn die Regierung die vollständige Kontrolle über das Land haben will, wird noch länger gekämpft. Wenn sie allerdings bereit ist, einen Waffenstillstand einzugehen, der bedeutet, dass gewisse Teile des Landes unter Kontrolle der Oppositionskräfte stehen - auch etwa kurdische Gebiete -, dann ist es möglich, dass der Verlust von Aleppo der Opposition auch Raum für Verhandlungen eröffnet."

Allerdings, da sind sich Beobachter einig, bedeutet ein Fall Aleppos nicht das Ende des Blutvergießens. Die im Bürgerkrieg aufgerissenen Gräben seien zu groß und die Machtbasis von Assad sei zu klein, um das Land zu einen. Große Teile vieler Städte liegen in Trümmern, die Infrastruktur ist in weiten Teilen zerstört, Hunderttausende Menschen wurden getötet, 14 Millionen Syrer vertrieben, ein Drittel davon flüchtete ins Ausland (hier zur UNHCR-Statistik). Weite Teile des Landes sind weiter in der Hand von Aufständischen. Der Terrormiliz "Islamischer Staat" gelang am Wochenende die Rückeroberung der antiken Oasenstadt Palmyra. Zudem werde die Abhängigkeit des syrischen Regimes von Russland und dem Iran zementiert; und international ist der Präsident Assad isoliert. Der Krieg wird auch wegen politischer Machtinteressen weitergehen.

Russlands Rolle in Syrien umstritten

Deshalb wagt auch niemand, von einem Fortschritt bei den Genfer Friedensverhandlungen zu sprechen. Eine von mehreren Nachrichtenagenturen kolportierte Meldung, dass es eine Vereinbarung gebe, die den Rebellen ermöglichen soll, Aleppo zu verlassen, wurde vom Regime dementiert. Aufständische wiederum sagten, dass ihr Abzug aus dem Ostteil der Stadt vor allem an Russland gescheitert sei.

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Die Rolle der russischen Regierung im syrischen Bürgerkrieg ist schon lange sehr umstritten. Innerhalb des UN-Sicherheitsrates legt das Land zusammen mit China in regelmäßigen Abständen ihr Veto gegen Resolutionen ein, um Assad weiterhin am Thron zu halten (mehr dazu hier).

Zuletzt kritisierte der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault die "Doppelzüngigkeit" Russlands. Denn die Verhandlungen über eine friedliche Lösung der Syrien-Frage sei an "einer Art von permanenter Lüge" gescheitert. Die russischen Vertreter sagten "auf der einen Seite, 'wir verhandeln, wir verhandeln, wir werden zu einer Feuerpause kommen'", sagte Ayrault. "Auf der anderen Seite setzt man den Krieg fort und dieser Krieg ist ein umfassender: Es ist der Wille, das Regime von Assad zu retten und Aleppo zu Fall zu bringen."

Während Diplomaten verhandeln und die internationale Gemeinschaft vor Gräueltaten warnt, versinkt Aleppo im "totalen Chaos", schreibt der in Ost-Aleppo verbliebene Journalist Zouhir Al Shimale. Die Luftangriffe am Sonntag seien die bisher schlimmsten gewesen. "Sie haben nicht aufgehört. Wir konnten in der Nacht nicht schlafen, wir konnten nicht raus. Es war sehr schlimm. Darum entschieden sich viele, einfach nur zu rennen."

https://twitter.com/ZouhirAlShimale/status/808389315701145604 Zouhir_AlShimale (@ZouhirAlShimale

Der freie Journalist, der unter anderem für Zeit Online und Al Jazeera die Erlebnisse in der umkämpften Stadt festhält, berichtet über die mangelnde medizinische Versorgung, über leerstehende Geschäfte, über die Wasserknappheit in Aleppo. Noch gebe es Linsen und Mehl, aber es sei unglaublich teuer, "die Leute kämpfen darum", schreibt er. "Wenn es so weitergeht, wird alles in einer Katastrophe enden. Dutzende Menschen werden sofort sterben, andere später. Aber sie werden sterben."

Oder wie der Lehrer Abdul Kafi Alhamado sagt: "Es ist der Tag des Jüngsten Gerichts."

Der syrische Lehrer Abdullah Ibrahim ist vor wenigen Wochen mit seiner Familie von Aleppo ins nur 60 Kilometer entfernte Idlib geflüchtet. Auch dort werden die Luftangriffe der syrischen und russischen Armee immer heftiger.

Kurier.at: Wie geht es Ihnen derzeit in Idlib, sind Sie dort sicher? Wie würden Sie die Lage beschreiben?

Abdullah Ibrahim: Heute war es ruhig, aber wir hatten die vergangenen zwei, drei Wochen massive Luftangriffe von russischen und syrischen Kampfflugzeugen. Wir befürchten, dass die Angriffe die nächsten Tage zunehmen werden.

Werden Sie in Idlib bleiben, oder versuchen Sie in die Türkei zu flüchten?

Wir haben kein Geld mehr, Schlepper verlangen rund 450 Dollar pro Person für ein Ticket in die Türkei. Die Menschen, die hier leben, können sich das nicht mehr leisten.

Was wissen Sie über die Situation in Aleppo? Medien berichten, dass die Stadt gefallen ist.

Aleppo wurde von Assad und den Russen fast unter ihre komplette Kontrolle gebracht. Die Menschen und viele Kämpfer fliehen mit ihren Familien, aber es bleibt auch genug zurück, um den Kampf fortzusetzen. Aber die Welt hat uns vergessen, deswegen wird dort solange getötet werden, bis niemand mehr übrig sein wird.

Ist mit dem Fall von Aleppo der Krieg entschieden?

Nein, aber das Regime gewinnt dank der Russen und der Iraner immer mehr an Boden. Aber Assad ist nicht so stark wie er glaubt. Der IS konnte Palmyra wieder zurückerobern.

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Wer kontrolliert derzeit Idlib?

Das sind verschiedene Rebellengruppen, wie zum Beispiel die frühere Al-Nusra-Front, die sich heute Jabhat Fatah al-Sham nennt, und eine Reihe von kleineren Organisationen.

Es ist anzunehmen, dass nach dem Fall von Aleppo Assad Idlib einzunehmen versucht. Sind die Rebellen in Idlib überhaupt in der Lage hier entgegenhalten, oder droht ihnen ein ähnliches Schicksal wie in Aleppo?

Ich hoffe es, aber ich befürchte, dass es so blutig wie in Aleppo sein wird. Ich hoffe, Gott steht uns bei.

(Interview von Stefan Kaltenbrunner)

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