Frauen in Afghanistan: "Einzelhaft im eigenen Zuhause"
Die Taliban haben die Frauenrechte in den letzten drei Jahren massiv eingeschränkt. Aktivistin Horia Mosadiq über Sprechverbote, Untergrundschulen und ein kontrovers diskutiertes EuGH-Urteil.
Horia Mosadiq hat im Laufe ihres Lebens schon viele Todesdrohungen bekommen, die jüngste erst vergangene Woche per Mail. "Ich glaube, wenn man Gewalt erlebt, wird man entweder selbst gewaltsam oder man will gegen Gewalt ankämpfen", sagt die afghanische Aktivistin bei einem Treffen in Wien. Sie sei froh, dass es bei ihr Zweiteres sei.
Seit 30 Jahren setzt Mosadiq sich schon für Frauen- und Menschenrechte ein - in Afghanistan alles andere als ungefährlich. Als sie in den 2000ern für verschiedene NGOs arbeitete, ignorierte sie Anfeindungen gegen sich erst. Doch dann übten die Gegner Gewalt an ihrer Familie aus: Auf ihren Mann schossen sie und ihre Töchter versuchten sie zu entführen, einer schnitten sie ins Gesicht. 2008 zogen sie deshalb nach Großbritannien. Von dort aus macht Mosasdiq weiter auf die Lage der Frauen in Afghanistan aufmerksam. Seit der Machtübernahme der Taliban 2021 hat sie noch einmal viel mehr zu tun.
KURIER: Frau Mosadiq, unter den Taliban sind Frauen und Mädchen massiven Repressionen ausgesetzt. Wie können wir uns ihr Leben vorstellen?
Horia Mosadiq: Um zu verstehen, wie es ist, eine Frau in Afghanistan zu sein, muss man selbst eine Frau in Afghanistan sein. Die Taliban tun alles, um Frauen die Rechte wegzunehmen. Sie dürfen nicht mehr ohne männliche Begleitung rausgehen und auch sonst vieles nicht mehr tun, nicht mal mehr Parks können sie besuchen. Sie dürfen nicht mehr laut sprechen. Mädchen müssen nach der sechsten Klasse, da sind sie elf oder zwölf Jahre alt, mit der Schule aufhören. Afghaninnen sitzen in ihrem eigenen Zuhause in Einzelhaft. Ich sage immer: Wenn sie uns auch die Luft zum Atmen beschränken könnten, würden sie.
Frauen brauchen also im Grunde für alles, was sie theoretisch noch tun können, mittlerweile die Erlaubnis der Männer in der eigenen Familie.
Ja, stellen Sie sich vor, eine Frau ist krank und allein zuhause, weil ihr Mann vielleicht in der Arbeit ist. Sie dürfte nicht allein zum Arzt, sondern müsste warten, bis der Mann nach Hause kommt und als männlicher Vormund mit ihr hingeht.
Die afghanische Aktivistin Horia Mosadiq ist bekannt für ihre Arbeit in den Bereichen Menschenrechte, Frieden und Gleichstellung der Geschlechter und hat bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Sie bekleidete wichtige Funktionen bei Amnesty International, der Afghanistan Independent Human Rights Commission und verschiedenen internationalen Organisationen. Auch für verschiedene Medien schrieb sie bereits.
Diese Woche war sie auf Einladung des Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation (VIDC) zu Gast in Wien, wo sie in der Diplomatischen Akademie an einer Podiumsdiskussion über feministische Außenpolitik teilnahm.
Es ist schon so, dass viele Männer ihre weiblichen Familienmitglieder unterstützen. Das haben wir in den vergangenen drei Jahren gesehen und auch früher, als die Taliban von 1996 bis 2001 schon mal an der Macht waren. Es gibt zum Beispiel Tausende Untergrundschulen für die Mädchen im Land - oft sind es die Väter, Brüder oder Onkeln, die das Risiko auf sich nehmen und sie hinbringen. Auch Frauen, die sich weiterhin zumindest online mit Universitäten verbinden, bekommen ihre Geräte und Internetverbindung meist von Männern. Aber die Taliban üben enormen Druck aus und sagen, wenn eine Frau sich ihrer Ansicht nach falsch verhält, sollen die männlichen Familienmitglieder dafür bestraft werden.
Der EuGH hat kürzlich entschieden, dass alle Frauen und Mädchen aus Afghanistan Verfolgte sind und ihnen daher Asyl zusteht. Folglich ist die Sorge aufgekommen, das könne dazu führen, dass künftig mehr Frauen sich unter zum Teil lebensgefährlichen Umständen auf den Weg in Richtung EU machen. Teilen Sie die?
Nein, ich glaube in der Hinsicht wird das Urteil keine drastischen Auswirkungen haben. Dass Frauen seltener fliehen als Männer hat ja Gründe und die ändern sich nicht - zum Beispiel, dass die Flucht für sie noch gefährlicher sein kann, was gewisse Formen der Gewalt angeht.
Eine Ihrer Hauptforderungen ist es, dass die geschlechtsspezifische Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen in Afghanistan im Völkerrecht als Verbrechen anerkannt wird. Was würde das bedeuten?
Die Zusammenarbeit anderer Länder - wie die USA oder Norwegen - oder großer internationaler Unternehmen mit den Taliban wäre dann illegal. (Seit 2021 gab es mehrere Treffen zwischen Taliban-Mitgliedern und Regierungsvertretern westlicher Länder, oft ging es um Menschenrechte und die humanitäre Krise in Afghanistan, Anm.) Der Westen sollte stärker NGOs unterstützen, die diskret und im Untergrund arbeiten. Sie schützen Frauen und Mädchen davor, vergewaltigt und geschlagen zu werden - die Taliban nicht.
Afghanische Frauen- und Menschenrechtsaktivisten und ihre Familien sind großen Gefahren ausgesetzt, das mussten auch Sie schon erleben. Ist es vor Ort noch irgendwie möglich, die eigene Meinung öffentlich kundzutun?
Nein. Wer die Taliban auch nur annähernd kritisiert, in sozialen Netzwerken etwa, wird verhaftet, gefoltert oder umgebracht. Ein junger Ingenieur hat zum Beispiel kürzlich auf Facebook darauf aufmerksam gemacht, dass die Taliban die Gehälter weiblicher Lehrkräfte ausgesetzt haben. Danach ist er verschwunden, eine Woche später wurde er tot gefunden – mit gebrochenen Armen, Beinen, Kieferknochen.
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