Ägypten: ElBaradei soll neuer Premier werden
Gegen Samstag Mittag waren die schlimmsten Schutt- und Scherbenberge aus Kairos Innenstadt wieder beseitigt. Doch die politischen Wunden, die die nächtlichen Straßenschlachten zwischen Anhängern und Gegnern des gestürzten Präsidenten Mohamed Mursi geschlagen haben, liegen in Ägypten weiter offen.
Abermals machten die Muslimbrüder am Samstag klar, dass sie Absetzung ihres gewählten Präsidenten durch das Militär nicht hinnehmen werden. Sie kündigten weitere Proteste an und wollen mobil machen. „Wir werden Mursi auf unseren Schultern tragend ins Amt zurückbringen“, rief ihr Führer Mohammed Badia Zehntausenden zu. „Wir werden für ihn unsere Seelen opfern.“ Vom Gesprächsangebot des neuen Interimsstaatschef, Adly Mansur, wollen die Muslimbrüder ebenfalls nichts hören. Sie fühlen sich um die Früchte eines legitimen Urnengangs betrogen.
Militär patrouilliert
Auf den Brücken, den wichtigsten Kreuzungen, Straßen und Plätzen der Kairoer Innenstadt patrouilliert die Armee. Erneute, blutige Zusammenstöße zwischen Mursi-Gegnern und seinen Anhängern sollen verhindert werden. Auf dem zentralen Tahrir-Platz protestieren indessen weiter jene Ägypter, die den Coup der Armee vor vier Tagen gut heißen. Doch die Stimmung bleibt im ganzen Land zum Zerreißen gespannt.
Verwirrung um Elbaradei als neuer Premier
Wie sich Ägypten aus der akuten Krise katapultieren will, ist offen. Übergangspräsident Mansur soll sich laut Armeekreisen nach ersten Sondierungsgesprächen für die Bildung einer neuen Regierung bereits für seinen Premier entschieden haben: Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei. Der ehemalige Chef der in Wien ansässigen UN-Atombehörde und bis vor wenigen Tagen noch Führer der liberalen Opposition im Land sollte noch gestern Abend angelobt werden, ehe ein Dementi eines Präsidentensprechers für Verwirrung sorgte: ElBaradei sei zwar Favorit, aber noch nicht zum Premier ernannt worden.
Für die Muslimbrüder ist seine Bestellung inakzeptabel, der Machtkampf im Land tobt weiter. Und die Zeit drängt: Das Parlament ist aufgelöst, die Verfassung außer Kraft gesetzt. Dringend notwendige Kredite des Internationalen Währungsfonds, um einen Bankrott Ägyptens zu vermeiden, werden nicht genehmigt, solange es keine Wirtschaftsreformen gibt.
Schwere Zusammenstöße gab es auch in Alexandria gegeben. Auf der Sinai-Halbinsel droht die Lage indes völlig außer Kontrolle zu geraten. Hunderte bewaffnete Islamisten haben sich in der Nacht auf Samstag Kämpfe mit Soldaten geliefert. In der Früh stürmten sie den Sitz des Gouverneurs in der Provinz Nord-Sinai. Sechs Armee-Angehörige wurden erschossen, fast zwei Dutzend Menschen wurden verletzt. Sowohl die ägyptische Armee als auch die israelische Armee im Grenzbereich zum Sinai wurden in höchste Alarmbereitschaft versetzt.
Suez-Kanal
Nach Angaben der israelischen website Deka fürchtet die ägyptische Armee Raketenangriffe der Islamisten auf den Suez-Kanal – als eine Art Vergeltung der religiösen Extremisten für die Absetzung von Präsident Mursi. Für Ägyptens Wirtschaft, die mit den Kanalgebühren jährlich mehrere Milliarden Euro einnimmt, hätte dies verheerende Folgen: Ein Drittel aller Öllieferungen vom Persischen Golf an Europa und die Mittelmeerländer gehen durch den Suez-Kanal.
Rund 6000 Urlauber aus Österreich sind gerade in Ägypten, die meisten in der Region am Roten Meer. Zudem leben etwa 2000 Österreicher ständig im Land am Nil. Eine generelle Reisewarnung hat das Außenministerium bis Freitag nicht ausgestellt. Solange sich die Ausländer von den Demonstrationen und den großen Städten wie Kairo, Alexandria und Luxor fernhalten, sagte Ministeriumssprecher Martin Weiss zum KURIER, seien sie keiner besonderen Gefahr ausgesetzt. „Der Badeurlaub ist bis jetzt nicht negativ beeinflusst“, sagte er am Freitag.
Von „nicht dringend notwendigen Reisen“ wird vorsorglich abgeraten – Tourismusresorts am Golf von Akaba zwischen Sharm el-Sheikh und Nuwaiba sowie an der Wetküste des Golfs von Suez sind ausgenommen.
Doch die Regierung ist für den Ernstfall gerüstet. Ein Krisenunterstützungsteam (KUT) aus rund 40 Experten von Außen-, Innen- und Verteidigungsministerium steht bereit, Österreichern im Notfall zu helfen, sicher in die Heimat zu kommen.
„Wenn sich eine Krise zuspitzt, dann sind Botschaften erfahrungsgemäß oft mit der Situation überfordert“, weiß Weiss. Während der Aufstände in Ägypten 2011 gingen in der Botschaft rund 2000 Anrufe ein. 3500 Urlauber und 1500 Auslandsösterreicher hielten sich damals im Land auf. Die Urlauber sind sukzessive mit normalen Linienflügen, AUA-Sondermaschinen oder Hercules-Flugzeugen des Bundesheeres nach Österreich zurückgekommen – mithilfe des KUT.
Derzeit sei noch nicht absehbar, ob das Krisenteam der Regierung tätig werden müsse, sagte Weiss. Doch die 40 Experten sind, wie es so schön heißt, „auf Stand-by“. Wem die bevorstehende Reise nach Ägypten zu gefährlich erscheint, kann laut Verein für Konsumenteninformation versuchen, kostenlos zu stornieren. Auch AKNÖ-Konsumentenberater Manfred Neubauer glaubt, dass Reiseveranstalter in diesen Situationen „relativ kulant“ seien.
„Ich stand so unter Schock. Ich konnte nicht sprechen, nicht um Hilfe rufen. Ich habe einfach nur geschrien.“ Was Hania Moheeb in der Vorwoche auf dem Tahrir-Platz erlebte und was sie in einem Video für Human Rights Watch schildert, das gehört zu den dunkelsten Seiten des politischen Umbruchs in Ägypten. Während Hunderttausende Menschen in der vergangenen Woche im Zentrum Kairos demonstrierten, wurden mitten in der jubelnden Menge mindestens hundert Frauen Opfer sexueller Übergriffe und Vergewaltigungen. Die Übergriffe folgen immer einem gleichen Muster: Eine Gruppe junger Männer sucht sich eine Frau aus, kreist sie ein, isoliert sie, reißt ihr die Kleider vom Kleid und vergeht sich an ihr.
Druck auf die Opfer
Rechtliche Verfolgung müssen die Täter nicht befürchten. Fast nie werden die Angreifer zur Verantwortung gezogen, manchmal sind Polizisten und Soldaten selbst die Täter. Für die Politik ist die sexuelle Gewalt gegen Frauen in Ägypten kein Thema. Geht eine Frau zur Polizei, wird sie oft genötigt, ihre Anzeige zurückzuziehen. „Als Opfer einer Vergewaltigung wird man wie eine Prostituierte behandelt“, schildert eine Mitarbeiterin der Selbstverteidigungsgruppe „Tahrir Bodyguards“.
Menschenrechtsorganisationen sehen in den Angriffen gegen die Frauen System. Immer wieder rechtfertigten sich die Angreifer mit dem Argument, die Frauen seien selbst schuld: Sie sollten sich aus der Politik heraushalten, nicht demonstrieren und öffentliche Plätze meiden. Der radikale Salafisten-Prediger Ahmed Mahmud Abdullah behauptete vor kurzem gar: „Die Frauen auf dem Tahrir-Platz haben kein Schamgefühl und wollen vergewaltigt werden.“
Ziel derartiger Angriffe werden immer wieder auch ausländische Journalistinnen – zuletzt in der Vorwoche eine junge Niederländerin. Die 22-Jährige wurde am Rande des Tahrir-Platz von fünf Männern vergewaltigt und schwer verletzt.
Herr Professor, wie beurteilen Sie die Vorkommnisse der vergangenen Tage in Ägypten?
Adel El Sayed: Ich bin ein Gegner jeglicher von oben diktierter Lösungen. In Ägypten sehen wir gegenwärtig eine noch nie dagewesene Spaltung der Gesellschaft – auf der einen Seite die Islamisten, auf der anderen Seite die frustrierte Jugend. Deswegen handelt es sich für mich bei den Ereignissen von gestern nicht um einen Putsch, sondern um den Versuch der Armee, die immer größer werdende Spaltung zu verringern.
War Mursis Sturz durch das Militär unvermeidlich?
Die Armee ist die letzte geordnete Institution im ganzen Lande, die etwas bewirken kann. Die Muslimbrüder sind aber nicht am Militär, sondern an ihrer mangelnden politischen Erfahrung gescheitert, durch die sie in weiten Teilen der Bevölkerung jegliche Unterstützung verloren haben.
Wie realistisch ist ein rascher Rückzug der Armee von der Macht?
Ich finde es aber sehr positiv, dass kein General, sondern ein Richter die Interimsregierung leitet. Die Armee bietet den Rahmen für eine ruhige Übergangszeit, diktiert aber keine Inhalte. Es handelt sich dabei größtenteils um junge, laizistische und weltoffene Offiziere, die die politische Landschaft Ägyptens ins Positive verändern wollen.
Wie sehen Sie das weitere Schicksal Mohammed Mursis und seiner Muslimbrüder?
Die letzte Botschaft Mursis war eine Botschaft des Hasses. Er wurde zwar legitim gewählt, seine Politik hat aber in keiner Weise den Volkswillen widergespiegelt. Nach dem Arabischen Frühling wurde den Muslimbrüder hoch angerechnet, dass sie wegen ihres Kampfes für mehr Freiheit lange Zeit verfolgt worden sind. Die Freiheit, die sie meinten, war allerdings nur die Freiheit gewählt zu werden - nicht die Freiheit, abgewählt zu werden. Das zeigte sich nach der Wahl Mursis.
Die Muslimbrüder – beziehungsweise ihr radikaler Flügel – müssen jetzt zu sich kommen, ihre Ideologie in Frage stellen und ihre Politik verändern. Sonst droht ihnen der Ausschluss aus der Politik, wie schon unter Nasser und Ben Ali.
Sie sprechen von einem radikalen Flügel. Stehen die Muslimbrüder vor einer Zerreißprobe?
Ja, ich erwarte eine Spaltung der Bruderschaft. Die Radikalen, die in den vergangenen eineinhalb Jahren die Zügel in der Hand hatten, haben die Jungen und Liberalen von den Hebeln der Macht ferngehalten. Die jungen Muslimbrüder haben den Geist der Straße mitbekommen und haben anders als die Dschihadisten auch nicht für Mursi demonstriert. Und dieses Bild der radikalen Mursi-Unterstützer auf den Straßen hat auch die sogenannte „Sofa-Partei“ aus ihrer Lethargie gerissen und die lange Zeit passive Bevölkerung gegen Mursis islamistisches Experiment demonstrieren lassen.
Wird sich jetzt im Land eine stabile demokratische Ordnung etablieren können?
Ich hoffe, dass es sich bei den Ereignissen von Mittwoch um die letzten Korrekturen gehandelt hat. Auch wenn ich nicht wusste wann, so hatte ich doch immer die Hoffnung, dass der Arabische Frühling letzten Endes nicht nur von den gut gebildeten Jungen, sondern von allen Schichten der Gesellschaft getragen wird.
Insgesamt hat die Demokratie aber keine Schule im Nahen Osten. Also lassen sie uns zuerst einmal über neue Konzepte reden, die die persönliche Freiheit ins Zentrum stellen, einen Neubeginn ohne islamistisches Experiment und das Ganze hoffentlich auf einer stabilen Basis.
Zur Person:
Nach dem Sturz des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi scheint ein Neuwahltermin vor 2014 unwahrscheinlich. Ein "seriöser und realistischer Wahltermin" könne "voraussichtlich erst im Jahre 2014 anberaumt werden", sagte der ägyptische Oppositionsführer Mohammed El Baradei am Freitag laut Aussendung im Telefongespräch mit Bundespräsident Heinz Fischer. Das Militär will nach Ansicht es ehemaligen IAEO-Chefs nicht auf Dauer an der Macht bleiben, sondern sei eingeschritten, um gewaltsame Auseinandersetzungen mit verstärktem Blutvergießen zu verhindern.
El Baradei, der gegenwärtig als aussichtsreichster Kandidat für den Premierposten in einer Übergangsregierung gehandelt wird, betonte, auch die Vertreter der Muslimbrüder "in fairer Weise in den politischen Dialog einbinden zu wollen". Mursi hatte mit Amtsantritt seine Mitgliedschaft bei den Muslimbrüdern zwar formell zurückgelegt, seine Politik war jedoch weiterhin von den Grundsätzen des islamistischen Bündnisses geprägt. Nach der Machtübernahme des Militärs wurden neben Mursi und Bruderschafts-Chef Mohammed Badie auch zahlreiche hochrangige Mitglieder der Organisation festgenommen.
Der Bundespräsident versicherte El Baradei demnach die Anteilnahme Österreichs.
Der Freitag ist Versammlungstag aller islamischen Gemeinden. Der Besuch des Freitagsgebetes in einer Moschee ist Pflicht für jeden männlichen, gesunden Muslim im Erwachsenenalter. Der Koran verlangt in Sure 62, Vers 9: "Oh Gläubige, wenn am Freitag zum Gebet gerufen wird, dann eilt zum Gedächtnis Allahs und lasst das Kaufgeschäft ruhen." Der Freitag soll als Versammlungstag gewählt worden sein, weil er auch Markttag war.
Das Freitagsgebet besteht aus den eigentlichen Gebeten und der Predigt eines Imams (Vorbeters). Der erste Teil der Predigt ist religiös geprägt, Koranverse werden rezitiert. Soziale und politische Themen bestimmen den zweiten Teil. Ursprünglich eine rein religiöse Zeremonie, bekam das Freitagsgebet vor allem nach der islamischen Revolution im Iran von 1979 auch einen politischen Charakter. Während des Arabischen Frühlings 2011 war es in Ägypten und anderen Ländern oft das Signal für neue Demonstrationen der versammelten Gläubigen.
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