Letzter Abflug Tegel: Wenn es über Berlin nicht mehr brummt

Letzter Abflug Tegel: Wenn es über Berlin nicht mehr brummt
Der City-Airport schließt: Die einen freuen sich über weniger Lärm, andere wie Joachim Szymanski werden das vermissen.

Leise grollend nähert sich der Flieger den Häusern, um dann mit einem dumpfen Donnern über die Dächer zu ziehen. Joachim Szymanski steht auf seinem Balkon und schaut, um welche Airline es sich handelt. Dafür braucht er kein Fernglas. "Ne, das ist keine British Airways", stellt der 72-Jährige fest. Er geht hinein in die Küche, dort hat er am Tisch seinen Laptop platziert. Die Seite mit den aktuellen Flugplänen ist offen - "es müsste eine griechische Maschine gewesen sein ... von Aegean", ruft er Richtung Balkon.

Der Berliner wohnt in Reinickendorf mitten in der Einflugschneise zum Flughafen Tegel. Seit mehr als 60 Jahren ziehen hier im Nordwesten Berlins Maschinen über Häuser, Gärten und Parks. Was andere auf die Barrikaden brachte, hat ihn nie gestört – "das ist ein Lebensgefühl".

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Joachim Szymanski

Mit der Eröffnung des Großflughafens Berlin Brandenburg (BER) vor einer Woche, war klar, dass sich das nun ändern wird. Heute, Sonntag, wird der Stadtflughafen Tegel schließen. Zuletzt litt der als architektonische Innovation gefeierte 60er-Bau unter der Last der Passagiere: Geplant für zwei Millionen, waren es 2019 zirka 24 Millionen Fluggäste. Um das zu stemmen, und weil der BER nicht fertig werden wollte, wurde angebaut: "Blechhallen" nannten jene die Terminals C und D, die es dort weniger gemütlich fanden als im sechseckigen Hauptgebäude. Dort waren die Wege kurz: Raus aus dem Auto und in wenigen Metern am Gate. Überhaupt war Tegel mit U-Bahn und Bus schnell erreichbar. Das erzählen Berliner, die dieser Tage rausfahren, um sich zu verabschieden. Auf der Besucherterrasse sehen sie den Fliegern beim Starten und Landen zu oder fotografieren die halb leere Abflughalle.

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Der BER existiert für ihn nicht

In Reinickendorf blinzelt Joachim Szymanski in die Sonne. Der nächste Flieger ist im Anflug. Schön war das, wenn er Besucher erwartete. Wie jetzt stand er auf dem Balkon, und wenn die Maschine über ihm vorbeizog, ging er zum Auto. Zwölf Minuten fuhr er zum Flughafen. Dass er nun Gäste vom BER südlich der Stadt abholen muss, missfällt ihm. Er wird hinfahren, aber in keinen Flieger steigen. "Dieser Flughafen existiert für mich nicht", sagt Szymanski. Lieber nimmt er die Bahn nach Frankfurt. Manche Freunde schütteln da den Kopf. "Sie sagen, ich hab’ ne Macke", erzählt er belustigt.

Man möchte jetzt einfach mit ihm mitlachen, will aber wissen, was ihn wirklich antreibt. An seinem Küchentisch, wo er Bücher mit Geschichten über Tegel oder dem Bauskandal am BER gestappelt hat, beginnt Jochaim Szymanski zu erzählen. Von einer Zeit, die längst vorbei ist, wo Berlin neben Tegel noch Tempelhof als Flughafen hatte, Amerikaner, Briten und Franzosen als Lebensretter galten und nur die Post problemlos über die Mauer kam. Er selbst hat sie in einem Lkw täglich auf das Flugfeld in Tegel gebracht. 30 Jahre lang. Seine Fahrten führten ihn auch nach Tempelhof, der US-Luftwaffenstützpunkt und Verkehrsflughafen war und 2008 geschlossen wurde. "Eine Schande", findet Szymanski.

Dort in der Nähe kam er 1948 zur Welt: Als Alliierte die von Sowjets blockierten Westberliner via Luftbrücke versorgten – und dazu Tegel bauen ließen. Vielleicht haben ihn die Geräusche der Maschinen im Mutterleib geprägt. Soll ja auch Effekte haben, wenn ungeborene Babys mit Mozart-Sonaten beschallt werden, sagt er und lacht. "Is' ne wilde Theorie".

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„Dit war die weite Welt“

Die ersten wirklich abrufbaren Erinnerungen hat er jedenfalls an Tempelhof. Als Kind lief er nach der Schule meist direkt in die Abflughalle. Seine Eltern, die gegenüber einen Kiosk führten, ließen ihm alle Freiheit. Der Blick aus den großen Fenstern, die Weite des Feldes faszinierten ihn. "Dann sieht man so’n Ding runterkommen, am Boden eine Runde drehen und dann rollt es auf einem am Fenster zu. Dit war die weite Welt."

Und ein Ort der Freiheit in einer eingesperrten Stadt. Mit 17 flog er zum Beatles-Konzert nach Hamburg - für 66 Mark, eine Aktion der Bravo. Überhaupt schrieb er keine Schularbeit, wo nicht nebenbei das Radio lief. Er hörte britische und amerikanische Sender. Später zeigte er amerikanischen Gästen im Rahmen eines Freundschaftsprogrammes Berlin, gründete einen Verein mit zweisprachiger Schule und Kita mit und arbeitete bis zuletzt im Museum des Vereins "Alliierte in Berlin".

Während er so erzählt, zischt draußen wieder ein Flieger vorbei. Er wird das Geräusch vermissen. Dass sich andere daran störten und Protest-Initiativen gründeten, konnte er nie nachvollziehen. Er sammelte Stimmen für die Offenhaltung Tegels. Beim Volksentscheid 2017 stimmten 56,1 Prozent dafür, dennoch setzte der Senat das Votum nicht um. "Viele Reinickendorfer waren für den Weiterbetrieb, Alt-Berliner wie ich", betont er. Davon gebe es nicht mehr viele. "Jetzt haben wir halb Baden-Württemberg in Berlin", so Szymanski. "Da fühl’ ick mick als aussterbende Spezies."

Auch in Tegel wird künftig vieles anders: Wohneinheiten für 10.000 Menschen sind geplant, eine Hochschule will einziehen. "Ein Albtraum", findet Szymanski. Ginge es nach ihm hätte man den Flughafen für innerdeutsche Flüge nützen sollen. Paris und London hätten auch City-Airports, nur Berlin eben nicht. Und wenn am BER was schiefläuft oder zu viel Nebel hängt, könnte man ausweichen und umgekehrt wie in Schönefeld, erklärt er, und weiß, dass es nichts mehr ändert.

Ob er an diesem Sonntag noch einmal nach Tegel fährt? Mal sehen. Der letzte Flieger geht um 15 Uhr nach Paris, berichtet er. Wenn der Wind dreht, fliegt er über Spandau. Dann kann er ihn vom Balkon aus nicht mehr sehen. Andererseits, so Szymanski, wird er sich dann wieder ärgern. Gut möglich, dass er zu Hause bleibt, den letzten Abflug vor dem Bildschirm mitverfolgt und dazu ein Glas Rotwein trinkt.

Wie sich Berliner von Tegel verabschieden

In manchen Geschäften stehen noch die Kartons herum, in anderen klebt nur mehr ein Zettel an der Glasscheibe. "Danke TXL" steht darauf geschrieben oder "Wir sind zum BER umgezogen". Leer und vereinsamt wirkt es hier im Hauptgebäude des Flughafens Tegel "Otto Lilienthal", wo sich in den vergangenen Jahren immer mehr Menschen mit Koffern gedrängt haben. An diesem Tag stehen nur wenige Passagiere vor einem Gate, der Flug geht nach Istanbul. Es ist einer der letzten, abzulesen auf der Anzeigentafel. Genau davor stehen doch einige Menschen und haben das Smartphone gezückt. Andere streifen langsam durch den sechseckigen Bau, der ein bisschen an ein Raumschiff erinnert. Vor dem Eingang zur Besucherterrasse hat sich eine Menschentraube gebildet - mit Abstand und Maske, wie das halt so ist in Zeiten der Pandemie. Wer rauf will, muss sich vorab online anmelden. Die Tickets sind seit Wochen ausgebucht.

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Gina und Gérard Serrier

"Ein Dorfflughafen"

Gérard und Gina Serrier waren bereits oben und spazieren noch einmal durch Terminal A. Das Paar wohnt wenige Autominuten von Tegel entfernt. Eine halbe Stunde vor dem Boarding sind sie meist zu Hause losgefahren, haben eingecheckt und waren am Gate, erzählen sie. Tegel ist für sie der Flughafen mit den kurzen Wegen. Jetzt, findet er, gehe viel Zeit drauf, wenn sie nach Schönefeld fahren. Überhaupt sei am neuen BER alles so steril - "ein typischer Großflughafen wie überall auf der Welt", sagt Gina Serrier. Tegel habe so etwas "Kleines, Gemütliches". Ihr Mann ergänzt: "Ein Dorflughafen".

Gebaut wurde Tegel ja unter anderen Vorzeichen, sagt Gérard Serrier, mit Blick auf die Geschichte des Airports. Durch das Flugaufkommen der letzten Jahre habe Tegel ganz schön gelitten. Sie selbst, die in Spandau leben, haben das Geräusch der vielen Start- und Landungen lange nicht als störend empfunden. Erst in den letzten zwei Jahren ist ihr das verstärkt aufgefallen, sagt Gina Serriere. Dass sie künftig nicht mehr um sechs Uhr früh aufstehen muss, um das gekippte Fenster zu schließen, ist schon ein Gewinn. Auch wenn sie es schade findet, "ist es besser, wenn er außerhalb der Stadt gebaut wird". Und hier, so die Frau, käme ja was Vernünftiges rein: Wohnungen und die Beuth-Hochschule.

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Christine Bernhard

"Geräuschkulisse der Heimat"

Christine Bernhard, die nach Tegel gekommen ist, um sich von "ihrem gemütlichen Heimatflughafen" zu verabschieden, hätte ihn gerne noch länger genutzt. Die Wahlberlinerin ist von hier aus in die Ferne geflogen, genauso wie in ihre frühere Heimat, die Schweiz, wo ihre Familie lebt. Seit 1989 hier, sieht sich als Teil des alten Westberlins. Viele Leute, die dort wohnen, hätten für die Offenhaltung gestimmt. "Das war für viele auch die Geräuschkulisse ihrer Heimat", sagt sie und ist sich sicher: "Den alten Berlinern wird es fehlen, dass die Maschinen nicht mehr über ihre Balkone fliegen, auch wenn sie oft über die Abgase gemeckert haben oder, wenn das Glas in den Schränken wackelte." In Berlin ärgere man sich gerne über etwas, gleichzeitig würde man es lieben.

So sehr sie die Stadt mittlerweile kennt und schätzt, habe sie es immer bedauert, dass es keine direkten Verbindungen nach New York oder in den Nahen Osten gab. Dafür musste sie immer nach Frankfurt oder München. "Man kam sich vor wie in der Provinz". Bernhard hofft, dass der neue Flughafen BER auch einige Kontinentalverbindungen bekommt, sonst wären sie hier wirklich "abgehängt". Überhaupt versteht sie nicht, warum eine Großstadt wie Berlin nicht gleich zwei Flughäfen haben kann. Innerstädtisches könnte von Tegel aus angeflogen werden, und was weiter weg ist, geht vom Süden aus.

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