100.000 Drogentote 2021: Die wahre Gesundheitskrise der USA

Protest gegen den Pharmakonzern Purdue vor dem Weißen Haus in Washington
Opioide forderten im vergangenen Jahr mehr Todesopfer als Corona. Kinder bleiben auf der Strecke, weil es viel zu wenige Pflegefamilien gibt.

"Wir haben Urgroßeltern, die Kleinkinder aufziehen", sagt Joanna Tabit, eine Richterin aus Charleston in West Virginia, über Amerikas versteckte Drogenkrise. Wenn Eltern und Großeltern wegen ihrer Suchtkrankheit ausfallen, müssen die betagten Urgroßeltern einspringen.

Richterin Tabit schätzt, dass sich 70 Prozent ihrer Verfahren inzwischen um Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern drehen. Drogenmissbrauch spiele in den allermeisten Fällen eine Rolle. Das System der Pflegefamilien sei angesichts der vielen Fälle in West Virginia völlig überfordert.

Die Corona-Pandemie hat die Opioid-Krise in den USA noch verschärft. 2018 sank die Anzahl tödlicher Überdosierungen in den USA erstmals seit Langem. Doch das Virus machte alle Erfolge zunichte. Das Netz der Hilfs- und Betreuungsangebote ist in den USA ohnehin dünn – wegen der Pandemie mussten aber viele Institutionen zusätzlich zeitweise schließen. Kinder sind die Leidtragenden.

100.000 Drogentote 2021: Die wahre Gesundheitskrise der USA

Das auf Opioiden basierende Schmerzmittel Oxycontin.

Opioide oder Schmerzmittel wurden in den USA viele Jahre verharmlost. Besonders profitiert hat dabei der Pharmakonzern Purdue, der als Familienunternehmen geführt wurde. In den 1990er-Jahren drängte die inzwischen berüchtigte Firma mit ihrem Schmerzmittel Oxycontin auf den Markt. Purdue gab das Suchtpotenzial von Oxycontin fälschlicherweise als niedrig an.

Während Oxycodon in Österreich unter das Suchtmittelgesetz fällt, verschrieben Ärzte in den USA die Mittel freizügig. Patienten wurden massenweise abhängig. Wegen jedes kleinsten Wehwehchens oder einer leichten Depression wurden Schmerzmittel eingeworfen – und immer mehr Menschen dadurch suchtkrank.

Alle fünf Minuten stirbt jemand an einer Überdosis

Die Purdue-Eigentümerfamilie Sackler, die sich lange Zeit als Mäzen in allen möglichen Museen und Universitäten hervorgetan hatte, musste sich öffentlich entschuldigen und enorme Summen bezahlen. Die meisten Prozesse sind noch nicht abgeschlossen.

Das Familienvermögen der weitverzweigten und offenbar zerstrittenen Familie Sackler wurde von Forbes auf 13 Milliarden US-Dollar geschätzt. Angeblich sollen vier Milliarden aus dem Privatvermögen bereitgestellt werden.

Vor einem US-Bundesgericht bekannte sich Purdue im November 2020 schuldig, gegen mehrere Bundesgesetze verstoßen zu haben. Unter anderem gestand das Unternehmen „die Verschwörung zum Betrug“ ein. Die Firma wurde 2019 nach „Chapter eleven“ in die Pleite geschickt, kann aber weiter machen.

Doch das Unheil nahm seinen Lauf. Weil Opioide nun viel restriktiver verschrieben werden, erblühte der Schwarzmarkt – und irgendwann stiegen viele Süchtige auf das billigere Heroin um.

Inzwischen strecken Dealer Heroin und andere Drogen häufig mit Fentanyl. Dieses synthetische Opioid ist erheblich stärker als Heroin, was das Risiko einer tödlichen Überdosis noch einmal deutlich erhöht.

In den USA stirbt inzwischen ungefähr alle fünf Minuten ein Mensch an einer Überdosis Drogen. Zwischen April 2020 und April 2021 – während der Corona-Pandemie – wurden erstmals mehr als 100.000 Todesopfer in einem Jahr verzeichnet, teilte die Gesundheitsbehörde CDC im Dezember mit.

Abhängige Babys

West Virginia, das zu den ärmsten US-Bundesstaaten zählt, führt die Überdosis-Statistik seit Jahren an. Nach CDC-Daten kommen in West Virginia mehr als 85 Drogentote auf 100.000 Einwohner (in Österreich liegt dieser Wert bei rund 3). Nach offiziellen Angaben kamen in dem Südstaatenland 2017 mehr als 5 von 100 Neugeborenen mit einem neonatalen Abstinenzsyndrom zur Welt. Das heißt, sie litten unter schweren Entzugssymptomen, weil ihre Mütter Drogen genommen hatten.

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