Aus London Anna-Maria Bauer
Sally Freeman greift zu den losen Tomaten – zu einem der letzten Stücke in der Kiste. Gerechnet hat sie damit nicht. Die Sicherheit, mit den Produkten zurückzukehren, die man daheim auf den Einkaufszettel notierte, gibt es in England derzeit nicht. Zuerst fehlten die Lkw-Fahrer, dann die Eier und nun das Salatgemüse: Seit Monaten kommt es zu Lieferengpässen. Und wenn man auf volle Kisten stößt, muss man sich mäßigen: „Maximal drei Einheiten pro Kunde“, steht weiterhin bei Tomaten, Gurken oder Eiern. Das führte schon zu skurrilen Schlagzeilen: „Frau von Lidl gesperrt, weil sie 100 Gurken kaufen wollte“ – die sie für ihre Detox-Drinks benötige, hieß es dazu im Daily Star.
Seit dieser Woche sollten die Restriktionen aufgehoben sein, doch durchgesetzt wird das noch nicht. „Nein“, sagt ein Mitarbeiter auf die Frage, ob man bereits mehr als drei Stück Gurken kaufen dürfe. Ein Student aus Portugal vor dem fast leeren Tomatenregal in einer Asda-Filiale zuckt bei solchen Geschichten mit den Schultern. Damit habe er gerechnet, seit er zum Studieren nach Southampton gezogen ist: „Wegen des Brexit.“
„Sollen sie doch Rüben essen“
Das B-Wort versucht die Regierung zu vermeiden. Schuld am Gemüsemangel seien, so steht es ja an den Regalen von Aldi, Lidl oder Asda, die „widrigen Wetterbedingungen“ in Europa und Afrika. Das „Wetter in Spanien können wir nicht kontrollieren“, meinte etwa Umweltministerin Thérèse Coffey im Februar zur nationalen Bauern-Union – und setzte sich dann mit der Aussage ins Fettnäpfchen, die Briten sollten doch Rüben essen.
Der Brexit gelte unberechtigterweise als Übeltäter, betonen Minister stets. Der Austritt ermögliche es vielmehr, Gesetze zu beschließen, die den Mangel beheben, meinte der damalige Transportminister Grant Shapps im Herbst 2021. Einen Monat später musste man zum Tanken mitternachts Schlange stehen.
Das Wetter-Argument setzt sich beim Anblick gefüllter Gemüseregale von Dänemark bis Spanien schwer durch. Und so sehen laut einer Studie für den Independent 57 Prozent der Briten im EU-Austritt den Grund für den Gemüsemangel. Die Zukunft dürfte freilich noch düsterer werden: Das „Office für Budget Responsibility“ prognostiziert den stärksten Rückgang des Lebensstandards seit 70 Jahren.
Bauern am „Klippenrand“
Auch wenn der Brexit nicht alleiniger Auslöser sein dürfte, sehen ihn viele doch als Problemverstärker. „Dass sich Handelsbarrieren auf Versorgungsketten auswirken, steht außer Frage“, sagt Christian Kesberg, Handelsdelegierter der WKO in London. „Es ist teurer und schwieriger, Produkte zu importieren und zu exportieren“, ergänzt Hubert Zanier vom „Kipferl“, einem österreichischen Restaurant in London.
Gleichzeitig kommt es zu Ausfällen im eigenen Land. Richard Diplock, Betreiber eines Gewächshauses in Sussex, erklärte Medien, seine Heizkosten seien sechsmal höher als zuvor. Im Dezember und Jänner wurde daher nicht geheizt, Pflanzen wurden später gesetzt und sind nun Mangelware. So gehe es vielen. Die Bauern appellieren an Finanzminister Jeremy Hunt: Man sei am „Klippenrand“. Ohne Unterstützung sinke die Tomaten- und Gurkenproduktion auf ihren niedrigsten Stand seit 1985.
Sally Freeman übt sich indes in britischer Gelassenheit. „Irgendetwas werde ich schon bekommen“, sagt sie und schultert ihre Einkaufstasche, „früher musste man auch für jedes Produkt in ein anderes Geschäft.“
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