"Unendliche Geschichte": So aktuell ist Michael Endes Buch heute
In der Welt breitet sich das Nichts aus. Es verschlingt die Seen, die Wälder, den Elfenbeinturm. Es vertreibt die Bewohner aus ihren Lebensräumen und scheint unaufhaltsam. Bis ein Kind kommt, in das die Bewohner des Landes all ihre Hoffnungen setzen und das andere Junge mitreißt, mit ihm zusammen die Lethargie der Ausweglosigkeit zu durchbrechen. Klingt ganz nach Greta Thunberg (16) und ihrer FridaysforFuture-Bewegung. Aber diese Geschichte entstand lange vor ihrer Geburt, als „Unendliche Geschichte“, ausgedacht von Michael Ende.
40 Jahre alt ist das Buch des wundervollen Geschichtenerzählers jetzt und prägte Generationen von Jugendlichen. Erst der 470-Seiten-Wälzer und dann der umstrittene, aber mitreißende Film. Lange bevor Herbert Grönemeyer „Kinder an die Macht“ forderte, lag die Verantwortung für die erfundene Welt „Phantásien“ in den Händen der jungen Generation.
Pummeliger Held
Allen voran die Hauptfigur der „Unendlichen Geschichte“, der im Buch pummelige Antiheld Bastian. Er findet sich in seiner Welt wenig zurecht und wird erst beim Retten der Welt zum Helden. Atreju, der andersfarbige Bub – im Buch: grün –, der Teil des ungewöhnlich gemischten Teams wird, ist direkt von den Veränderungen bedroht.
Und dann gibt es noch das Oberhaupt des Reiches, die Kindliche Kaiserin. Sie mag nicht die starke Frau sein, die sich Feministinnen als Vorbild gewünscht hätten, aber ihre Rolle im Buch und als weiße Lichtgestalt im Film zeigte den Mädchen, dass die Weisheit der Frauen entscheidend ist.
Die Geschichte war schon stark, als die jetzigen Eltern noch Kinder waren, heute ist sie unverzichtbar. Die verdorrten Landschaften ähneln der Dürre in Afrika. Im endlosen Sumpf der Traurigkeit versinken asiatische Landstriche. Und mit dem Pferd Artax stirbt keine Art aus, aber die Zuversicht. Selten erlebten Kinder so eine intensive Abschiedsszene.
Als Autor wollte Michael Ende möglichst wenig auf seine jungen Leser Rücksicht nehmen, er wolle seinen Schreibstil nicht der Verständlichkeit opfern. Die „Unendliche Geschichte“ bezeichnete er als „Kinderbuch für Erwachsene“. 30 Millionen Mal wurden seine Bücher verkauft. Die Literaturkritiker der Post-68 nahmen ihm seinen etwas esoterischen Stil übel. Sie forderten von ihm Wirklichkeit, Politisierung und Engagement, analysierte Ende-Expertin Julia Voss.
Höchst politisch
Dabei könnten seine Geschichten nicht politischer und aktueller sein. Immerhin setzen Kinder dort ihren Willen gegen die Erwachsenen durch: Das kleine Mädchen „Momo“ wehrt sich dagegen, dass den Menschen die Lebenszeit gestohlen wird. Die „grauen Männer“, die den Menschen die freigebliebenen Stunden abnehmen, erfand Ende lange bevor das erste Smartphone verkauft wurde, ja sogar vor der Erfindung des Internet. Und sein erster Erfolg im trüben Nachkriegsdeutschland 1960 handelte von dem afrikanischen Waisenjungen „Jim Knopf“, für den hierzulande angeblich kein Platz sei.
Wie sehr der frühere Walddorf-Schüler Ende von der aufkommenden Umweltbewegung inspiriert war, ist nicht klar. Seine jungen Leser jedoch wurden in den 70-er und 80-Jahren zu Umweltbewusstsein erzogen. Ein Jahr vor Erscheinen wurde in Österreich über das Atomkraft Zwentendorf abgestimmt, in der Schule wurde den Kindern Mülltrennung beigebracht, die Grüne Bewegung kam in Fahrt.
Wenn wir heute an die Unendliche Geschichte denken, erinnern wir uns vor allem an den ersten Teil, die aufregende Rettung der Welt. Doch im zweiten Teil geht es um den tieferen Sinn des Handelns, einen Aspekt, den man als Kind gar nicht so wahrnimmt. Nach seinem Lieblings-Kinderbuch gefragt, erklärte etwa der deutsche Jazzpianist Michael Wollny, was er von Bastian gelernt hat: „Er bekommt Macht über das Land Phantásien übertragen, muss aber lernen, dass damit nicht Willkür gemeint ist. Er merkt, dass Gutes tun gar nicht so einfach ist.“
Und genau das erleben die Jugendlichen heute auch. Ihr Handeln hat Konsequenzen und sie können die Verantwortung übernehmen. Und damit gibt das Buch seinen jungen Lesern eine Inspiration, die bei manchen ein Leben lang hält. Voss: „Am Ende gelingt es den Figuren, gegen das Böse, das Materialistische, gegen das Vereinfachende zu siegen.“
Viel Glück, Greta. Wünscht dir Bastian.
Film- und Buchtipps:
Der Ich-Erzähler in „Gregs Tagebuch“ ist ein denkbar schlechtes Vorbild für Kinder: Der pubertierende Bursch hält alle für Idioten und benimmt sich auch so. Doch Kinderbücher dienen nicht nur der Unterhaltung, im besten Fall liefern sie ihren Lesern Vorbilder, mit denen sie sich identifizieren können.
- Momo: Zuhören und Zeit haben, das war niemals wichtiger als jetzt.
- Katniss Everdeen: Die 16-jährige Hauptfigur der „Tribute von Panem“-Trilogie ist stark, mutig und selbstlos. Und im Film auch wunderschön.
- Pünktchen: Als Freundin von Anton erkennt das Mädchen aus reichem Haus die Notsituation ihres Freundes. Dass sie für ihn sogar mit dem Kinderfräulein betteln geht, konnte nur Emil Erich Kästner einfallen.
- Merida: Die irische Prinzessin und Bogenschützin war die erste der Disney-Heldinnen, die nicht nur auf den Prinzen wartet.
- Oskar: In „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ freundet sich der Bub mit einem minderbegabten Mitschüler an – so sind „cool kids“.
- Patrick Pacard: Wer erinnert sich an die Kinderserien der 80er-Jahre? Der coole Blonde kam in den Besitz einer Formel, mit der Gemüse in der Wüste gepflanzt werden kann.
- Frida, Malala & Co: Echte Menschen sind eine Inspiration. Derzeit boomen Porträt-Bücher für Kinder, wie „Good Night Stories für Rebel Girls“.
- Du selbst: Im personalisierten Bilderbuch rettet die Leserin ihren Park und den Regenbogen (www.hurrahelden.de, 35 €). Die Grafik mag eigenartig sein, aber das Thema ist schön.
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