Wir sind Kiew

„Wir erleben eine Zeitenwende. Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Der deutsche Kanzler Olaf Scholz hat es auf den Punkt gebracht: Fassungslos und scheinbar ohnmächtig steht die Menschheit vor dem, was sich derzeit in der Ukraine abspielt – mit mittel- und langfristigen Folgen, die noch gar nicht abzusehen sind.
Als Akutmaßnahme hat die deutsche Regierung nun doch Waffenlieferungen an die Ex-Sowjetrepublik angekündigt – wie immer mehr europäische Staaten. Man muss kein Kriegstreiber sein, um das gutzuheißen. Denn bloß aus warmen Wohnzimmern Solidaritätsgrüße nach Kiew zu übermitteln, während dort wegen eines blindwütigen Aggressors Menschen getötet werden, ist zu wenig.
Dass der außer Rand und Band geratene Kremlchef die Lieferung von Rüstungsgütern durch NATO-Staaten an die Ukraine auch als Vorwand nehmen könnte, EU-Staaten anzugreifen – besonders gefährdet erscheinen die baltischen Staaten –, ist in dieser bellizistischen Großwetterlage nicht auszuschließen. Zumal Wladimir Putin in ungeheuerlicher Weise schon Finnland und Schweden für den Fall eines NATO-Beitritts mit militärischen Konsequenzen gedroht hat, ein beispielloser Akt, der einem verbalen Angriff auf die gesamte EU gleichkommt.
Der kleine Mann in Moskau – Russlands Machthaber ist nur 170 Zentimeter groß – glaubt, dass der Westen dekadent und schwach sei. Er hatte mit dieser Einschätzung bisher recht. Doch ein Umdenken setzt ein. Und dass Appeasement schon einmal in die Katastrophe führte, wissen die Europäer nur zu gut.
Unsere Freiheit wird am Hindukusch verteidigt, hieß es zur Rechtfertigung des Afghanistan-Einsatzes immer wieder, die Ukraine ist allerdings Tausende Kilometer näher bei Europa. Das heißt nicht, dass die NATO sofort an der Seite der ukrainischen Streitkräfte, die alleine wohl auf verlorenem Posten sind, kämpfen soll. Aber alles, was vor einem etwaigen Waffengang im Arsenal der politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten verfügbar ist, muss herangezogen werden.
Sanktionen sind ergriffen, gut so. Jetzt muss man der Ukraine aber auch die EU-Beitrittsperspektive eröffnen. Das würde den Kriegsverlauf natürlich nicht ändern, wäre aber ein starkes und würdiges Signal: Wir sind Kiew.
Wladimir Putin stellt die Welt gerade auf den Kopf und spielt gar mit der atomaren Option. Zuvor Undenkbares wurde Realität. Und was, wenn der Kreml-Herr in seinem Allmachtsrausch tatsächlich NATO- oder EU-Mitgliedsstaaten militärisch attackiert? Dann müsste das westliche Verteidigungsbündnis reagieren und in den Krieg ziehen. Dann freilich wären die Tore zur Hölle gänzlich geöffnet.

Kommentare