Erdoğan, der Autokrat: Das sagt sich heute ganz selbstverständlich. Der türkische Alleinherrscher, der sein Weltbild über die von ihm kontrollierten Medien verbreiten lässt, der Bomben auf Kurden regnen und Zehntausende Andersdenkende mit Scheinprozessen in Gefängnisse verfrachten lässt, und der – wenn nötig – auch Wahlen wiederholt, wenn ihm das Ergebnis nicht passt.
Nur: Erdoğan war nicht immer so. Als er 2003 Ministerpräsident wurde, sah der Westen in ihm – ganz ähnlich wie in Putin übrigens – einen Hoffnungsträger. Mit Recht, schließlich schränkte er die Reichweite des bis dahin übermächtigen Militärs ein, gab den Religiös-Konservativen einen Platz in der Gesellschaft, stärkte sogar die Pressefreiheit und suchte nach einer politischen Lösung im Kurdenkonflikt. Sein Strahlen war so stark, dass die EU der Türkei ihre Türen öffnete, seine Reformen so nachhaltig, dass das Land prosperierte wie nie: Das Pro-Kopf-Einkommen stieg in den ersten zehn Jahren seiner Ära fast um das Vierfache, die Mittelschicht verdoppelte sich.
Dass diese Mittelschicht sich nun ihr Leben nicht mehr leisten konnte – die Inflation lag 2022 durchschnittlich bei 72 Prozent, viele Familien können sich nicht mal mehr Fleisch leisten –, hat Erdoğan zu spüren bekommen. Die wirtschaftlich miserable Lage des Landes war es, die die Menschen von ihm wegtrieb. Sein Erfolg baute stets auf seinem Gefühl für die Sorgen der Menschen auf. Dieses Gespür opferte er dem Irrglauben aller Autokraten – als Einziger zu wissen, was das Beste sei und dabei das Wohlergehen der Menschen ignorieren zu können.
Warum er diese Richtung einschlug, darüber wird in der Türkei viel gestritten, Die einen sagen, er sei immer ein Autokrat gewesen, hätte seine Absichten nur hinter einer menschenfreundlichen Maske verborgen (auch das wäre eine Parallele zu Putin). Die anderen meinen, das skeptische Europa, das mit seiner Rolle als Fürsprecher aller Muslime der Region haderte und ihn zappeln ließ, hätte ihn verbittert. Ein Teil davon mag wohl stimmen.
Genau darum ist diese Wahl nicht nur für alle Türkischstämmigen hier wichtig, sondern für ganz Europa. In den letzten Jahren hat man Erdoğan dank seines Pragmatismus (Stichwort Flüchtlingsdeal) intern schalten und walten lassen. Bleibt er Präsident, wird in der Türkei wohl alles noch repressiver, als es jetzt ist – und da kann Europa nicht zusehen. Heißt der neue starke Mann am Bosporus Kemal Kılıçdaroğlu, brechen ohnehin andere Zeiten an: Die ganze Region wird aufwachen, weil der türkische „Ghandi“ gezeigt hat, dass man Autokraten auch mit demokratischen Mitteln beikommen kann. Und so versöhnlich der Sozialdemokrat nach innen hin ist, so fordernd wird er Richtung Europa sein – es wäre eine Zeitenwende, bei der wir dringend mitmachen sollten.
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