Die solidarische Leistungsgesellschaft

Die solidarische Leistungsgesellschaft
Mehr „Life“ statt „Work“? Das bringt die ganze Gesellschaft unter Druck. Künftig müssen die Österreicher wohl wieder mehr arbeiten
Martina Salomon

Martina Salomon

Ursula von der Leyen hat in ihrer großen Rede zur Lage der Europäischen Union diese Woche angekündigt, Europa vor Konkurrenz aus China schützen zu wollen. Was sie nicht dazugesagt hat: Man sollte auch ein bisschen mehr über die Rückkehr zur Leistungsgesellschaft und ein bisschen weniger über Work-Life-Balance sprechen: Das Wort löst ausschließlich positive Assoziationen aus. Die Tendenz zur Gemütlichkeit hat in Zeiten des Arbeitskräftemangels aber auch Schattenseiten. Ziemlich unangenehme sogar.

➤ Mehr lesen: Das Zinsendilemma: Ein bissl was und nichts 

Zum Beispiel, dass es in Österreich selbst im Akutfall nicht mehr möglich ist, schnell einen Operationstermin in einem öffentlichen Spital zu bekommen, weil teure OP-Säle mangels Personal unbenützt bleiben. In der Schule unterrichten Quereinsteiger, für die Pflege der alten Eltern muss Betreuung von weit her geholt werden.

Die Unlust Vollzeit zu arbeiten

Am Sonntag bleibt das Wirtshaus geschlossen. Die große Unlust, Vollzeit, abends oder gar am Wochenende zu arbeiten, führt außerdem nicht selten zu vollkommener Selbstausbeutung der kleinen Selbstständigen: Der Installateur oder die Kleinstadt-Konditorin arbeiten dann eben 100 Wochenstunden.

Weil sich jetzt auch noch eine Rezession auf leisen Sohlen heranschleicht, sei die Prognose gewagt, dass die Österreicher in Zukunft mehr statt weniger arbeiten werden (müssen). Dennoch wird man weiterhin Arbeitsmigration brauchen. Dazu ist es dringend notwendig, vom hohen Ross herabzusteigen: Nein, wir sind kein besonders interessantes Zielland für Pflegekräfte aus Indien oder Südamerika.

Bürokratische Abschreckung

Es gibt keine Willkommenskultur für Leistungsträger, sondern bürokratische Abschreckung, langwierige Nostrifizierungsverfahren für eine im Ausland abgeschlossene Ausbildung, und mit Deutsch außerdem eine Sprachbarriere. Da zieht man lieber nach Großbritannien oder Australien. Ein Bravo für das Land Tirol, das eine „Onboardingstelle“ für arbeitswillige Ausländer schafft.

Ja, es ist natürlich gut, dass Unternehmen gezwungen sind, ihren Mitarbeitern gute Arbeitsbedingungen, ordentliche Gehälter und Wertschätzung zu bieten. (Letzteres wird im Trubel des Arbeitsalltags leider oft vergessen.) Andererseits ist es Zeit für mehr Realitätssinn: Asiatische Länder sind auch deshalb im Vormarsch, weil unbedingter Leistungs- und Aufstiegswille „normal“ ist. Noch sind wir in Europa kreativer, flexibler und besser gebildet. Aber das schwindet. Die Gesellschaft ist ein wenig satt und verwöhnt geworden.

Das ist gefährlich, weil hohe Energiepreise, Steuerlast und Überregulierung den Wirtschaftsstandort Europa ebenfalls schwächen. Es gab einmal einen (sozialdemokratischen!) Kanzler, der die „solidarische Hochleistungsgesellschaft“ propagierte. Man stelle sich vor, das würde ein ÖVP-Kanzler fordern. Wie wär’s, wenn er es sich dennoch trauen würde?

Martina Salomon

KURIER-Herausgeberin Martina Salomon

Kommentare