Schütze sich, wer will

Dass Pandemiepolitik keine einfache Sache ist, haben wir in den letzten zwei Jahren, drei Bundeskanzler und Gesundheitsminister später, schon gelernt. Auch der in Deutschland mit viel Vorschusslorbeeren gestartete Ober-Virologe Karl Lauterbach war einige Wochen und TV-Shows später schon wieder entzaubert.
Die Entscheidung von Gesundheitsminister Rauch, die Maskenpflicht für vorerst drei Monate zu kippen, ist nun aber richtig. Da tut es auch nichts zur Sache, dass er erst nach massivstem Druck des Handels mit Kammern und Gewerkschaften umgedacht hat. Dass man am Dienstagabend in der Wiener Stadthalle mit 10.000 Fans beim Dua Lipa-Konzert maskenlos tanzen durfte, heute früh aber im Supermarkt mit Maske einkaufen musste, ist ohnehin nicht mehr nachzuvollziehen. Und wenn man den Sinn einer Maßnahme nicht mehr erkennt, führt das zum Maskenschwindel (unter der Nase tragen) als Kavaliersdelikt. Dass Wiener U- und Straßenbahnen anders geregelt bleiben, ist angesichts des nicht zu vermeidenden engen Abstands als urbane Sonderbestimmung nicht unlogisch.
Es beginnt daher nun ein Sommer, in dem wir auf etwas zurückgreifen müssen, was wir schon lange so nicht mehr kennen: das Prinzip der Eigenverantwortung. Wer noch nicht oder schon länger nicht mit Corona infiziert war oder dessen Impfung länger zurückliegt, wird vielleicht vorsichtiger sein und im Zug oder bei Menschenansammlungen nochmals den Mundschutz aufsetzen. Wer seine älteren oder kränklichen Verwandten besucht, sollte das auch tun. Wer noch nicht ein drittes Mal geimpft ist, möge seinen Arzt kontaktieren. Wer Angst vor einer Infektion hat, kann sich weiter selbst mit Maske schützen. Niemand würde mehr über ihn schmunzeln.
Die Politik traut uns also wieder zu, mit dem Risiko einer Infektion selbst umzugehen. Es ist ein Schritt in Richtung einer Normalität, mit der wir wegen Corona künftig leben werden müssen. Wir werden stärkere, weil infektiösere Wellen haben, genau so wie schwach ansteckende, aber härtere Symptome verursachende Varianten. Hoffentlich keine mit dem Schlechtesten aus beiden Welten. Schützen müssen wir uns großteils aber selbst.
Wir dürfen uns umgekehrt von der Politik erwarten, dass sie nicht den dritten Sommer hintereinander verschläft und uns im Herbst wieder – völlig überrascht von einer neuen Welle – mit unausgegorenen und zu späten Maßnahmen konfrontiert. Was jetzt geschehen muss: Auf Basis der Szenarien den Pandemie-Werkzeugkoffer neu schlichten, die einzelnen Instrumente schärfen, etwa durch besseres Datenmanagement oder dringend nötige Belüftungen in den Klassenzimmern. Die Ärzte und Pfleger haben es sich verdient, nach zwei Jahren wieder einen Urlaub oder ein Wochenende planen zu können, sodass der Termin hält. Genauso wie es sich die 130.000 Handelsmitarbeiter verdient haben, ab nächstem Mittwoch wieder frei atmen zu können.
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