In der Not nützen dem "Sultan" Facetime, Facebook & Twitter

In der größten Bedrängnis griff Erdogan ausgerechnet auf die von ihm so verhassten Online-Medien zurück und profitierte von ihrer enormen Mobilisierungskraft.
Peter Temel

Peter Temel

In größter Bedrängnis spielten Erdogan ausgerechnet die verhassten Online-Medien in die Hände

von Peter Temel

über die Rolle neuer Medien beim Putschversuch in der Türkei

Egal, ob der Putschversuch in der Türkei nun inszeniert war oder nicht - in einem der Schlüsselmomente der Nacht hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan alle überrascht. Er wandte sich via Facetime an den TV-Sender CNN Türk, dieser filmte die Botschaft des bedrohten Staatschefs von einem iPhone live ab. Übers Fernsehen und über soziale Medien weitergetragen, konnte der "Sultan" seine Anhänger binnen kürzester Zeit dazu bewegen, trotz der von den Putschisten verhängten Ausgangssperre ihre Häuser zu verlassen und den öffentlichen Raum zu besetzen.

In der größten Bedrängnis griff Erdogan also ausgerechnet auf die von ihm so verhassten Online-Medien zurück und profitierte von ihrer enormen Mobilisierungskraft. Üblicherweise fährt der Autokrat eine restriktive Politik der Zensur, was soziale Medien betrifft. Ein Witz über Erdogans angebliche Ähnlichkeit mit "Gollum" kann da schnell vor Gericht enden.

In der Putschnacht waren zwar viele Online-Medien nur eingeschränkt nutzbar, Twitter gab aber zum Beispiel an, nicht komplett blockiert worden zu sein. Auf den Straßen konnten so Millionen von AKP-Anhängern selbst zu Propagandisten werden, die mit ihren Smartphones Videos von Panzern und deren Eroberung verbreiteten.

Nacht der Ironien

Eine weitere Ironie der Nacht des verhinderten Staatsstreichs: Erdogan konnte seine Durchhalteparolen ausgerechnet über den Fernsehsender CNN Türk absetzen. Der Sender gehört zur von ihm wiederholt angegriffenen Dogan Mediengruppe. CNN Türk gilt als regierungskritisch und geriet in den vergangenen Jahren mehrmals ins Visier von Erdogan und seiner islamisch-konservativen AKP.

Die putschenden Armeekräfte hatten zunächst die Kontrolle über den staatlichen Fernsehsender TRT übernommen, und von dort eine landesweite Ausgangssperre und das Kriegsrecht ausgerufen. Bei CNN Türk waren Soldaten der Putschisten erst dann aufmarschiert, als Erdogans Facetime-Call längst in den Äther gejagt war. Ein schweres Versäumnis. Aber selbst dann konnten Redakteure noch Beiträge via Facebook Live abgesetzen.

Manche Erdogan-Anhänger scheinen die Schützenhilfe des Senders, ob sie so beabsichtigt war oder nicht, schnell wieder vergessen zu haben. Der Sender berichtete auf Twitter von Übergriffen auf CNN-Türk-Reporter.

Es ist auch kaum zu erwarten, dass Erdogan selbst in einem plötzlichen Umdenken nun jene Medienvielfalt fördert, die ihm - wie gestern Nacht - in höchster Not behilflich sein kann. Die angedeuteten "Säuberungen" können in diesen unübersichtlichen Tagen durchaus auch die Redaktionsstuben betreffen. Ob er nach den jüngsten Ereignissen aber seinen vielen potenziellen Mitstreitern Facebook, Twitter & Co. als Werkzeug aus der Hand nimmt, wird sich der machtversessene Staatschef aber gut überlegen müssen. Wobei sich die Technik auch rasch gegen ihn selbst wenden kann.

Am Samstagmittag griff Erdogan bei einem erneuten Aufruf an die Bevölkerung, sich auf die Straßen zu begeben, jedenfalls auf ein etwas weniger zeitgeistiges Medium zurück: Ein SMS.

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