Provokation und Überzeichnung

"Verfassungsfeinde" haben sich in der Geschichte der Republik nicht nur bei der FPÖ gefunden.
Martina Salomon

Martina Salomon

„Die FPÖ ist eine Partei von Verfassungsfeinden“, erklärte gestern Peter Pilz, nachdem er eine Unterlassungsklage, die Innenminister Kickl gegen ihn angestrengt hatte, gewonnen hat. Ist das nicht jener Peter Pilz, der sein Saubermann-Image selbst schon längst zerstört und der zwei Parteien auf dem Gewissen hat: die aus dem Parlament gekippten Grünen und eine Liste, deren wechselnde Titel man sich für die nächste Legislaturperiode nicht merken muss?

Nun neigt der frühere FP-Generalsekretär tatsächlich manchmal zu haarsträubend-holzschnittartigen Aussagen – wahrscheinlich durchaus mit der Absicht, dass diese rhetorischen Bomben am Stammtisch schon ihre (zustimmende) Wirkung entfalten werden. Schließlich sind derzeit die Tabubrecher wider die political correctness auch in anderen Ländern (siehe Salvini und Trump) beim Wähler überaus beliebt.

Der schwerwiegendste Vorwurf gegen Kickl ist die Absicht der Rechtsbeugung. Ähnliches konnte man aber auch weniger umstrittenen Vorgängern vorwerfen. Hat man sich über diese „Verfassungsfeinde“ auch so aufgeregt? So war es in der Zeit, als die große Koalition noch wirklich groß war, gang und gäbe, missliebige Verfassungsgerichtshof-Entscheidungen durch Verfassungsgesetze mit Zwei-Drittel-Mehrheit auszuhebeln. Spezieller Sündenfall: das unterschiedliche Pensionsantrittalter von Mann und Frau im ASVG-Recht (ab 2024 wird es angeglichen, das VfGH-Urteil stammt aus 1990). Das widerspricht sogar der Charta der Grundrechte der EU (die über dem nationalen Recht steht). Sie verbietet Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Auch bei der steuerlichen Berücksichtigung von Kinderkosten und sogar bei etwas so lächerlich Unwichtigem wie den Taxikonzessionen umging der Gesetzgeber mittels Verfassungsgesetzes die Höchstgerichtsentscheide.

Auch das Recht ist eine Tochter der Zeit

Und es sind nicht nur Freiheitliche, die die Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention – beide in den Fünfzigerjahren unterzeichnet – angesichts der Migrationsentwicklung für überholungsbedürftig halten. Es lässt sich nicht leugnen: Auch das Recht ist eine „Tochter der Zeit“ und muss immer wieder adaptiert werden. So war die Genfer Flüchtlingskonvention für einzelne Menschen gedacht, die aus totalitären Staaten wie der DDR flüchten. Massenflucht vor prekären wirtschaftlichen Verhältnissen oder Umweltproblemen waren da nicht berücksichtigt. Das Problem ist: Die FPÖ provoziert, und Opposition und Medien nehmen diese Provokation dankbar auf, neigen ihrerseits zu Überzeichnung. In einer daueraufgeregten Zeit müssen beide Seiten offensichtlich die Dosis dauernd erhöhen. Das macht eine sachliche Auseinandersetzung unmöglich – speziell dann, wenn der erste Anstoß von einem Freiheitlichen kam. Wie wär’s, wenn wir zur Abwechslung mal alle wieder von der Palme runterkommen und unsere Feindbilder vorübergehend in die Schublade legen?

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