Wer sind wir und wie viele?

Martina Salomon
Die österreichische Identität, 65 Jahre nach Unterzeichnung des Staatsvertrags, ist so wenig gewiss wie schon lange nicht mehr
Martina Salomon

Martina Salomon

Fahnen, Tracht – und in Vor-Corona-Zeit wäre auch die Blasmusikkapelle aufmarschiert: Der Besuch von Kanzler Kurz im äußersten Westen Österreichs offenbarte nicht nur, wie schnell Politik-PR in die (Leder-)Hose gehen und ein Babyelefant schrumpfen kann. Sondern auch (wieder einmal), wie unterschiedlich das Land ist. Ein Vorarlberger ist einem Schweizer ähnlicher als einem Wiener. „Wer sind wir – und wie viele“, könnte man in Abwandlung eines Philosophie-Bestsellers fragen. Antwort: Wir sind wahrscheinlich so viele wie noch nie. Die österreichische Identität, 65 Jahre nach Unterzeichnung des Staatsvertrags und 75 Jahre nach Wiedergründung der Republik, ist so wenig gewiss wie schon lange nicht mehr.

Bei allen Gedenkfeiern der vergangenen Jahre drehte sich eine Elite im engen Kreis um sich selbst in durchaus ehrenwertem Bemühen der Vergangenheitsbewältigung. „Nie wieder“ war die Klammer über alles, und das war und ist auch extrem wichtig. Vergessen wir nie, wie eine scharfe politische Polarisierung in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts – nach einer katastrophalen Wirtschaftskrise – geendet hat! Aber wie erzählen wir das den Schülern, von denen die Hälfte eine ganz andere Herkunftsgeschichte hat? (Die Zeitzeugen, deren Schilderungen betroffen machen, werden ja leider immer weniger.) Über die Ansichten der Neo-Österreicher wissen wir kaum Bescheid. Für Umfragen sind sie oft nur schlecht bis gar nicht erreichbar. Die Aussagekraft solcher Studien ist daher überschaubar. Bei allgemeinen Befragungen, worauf die Österreicher stolz sind, steht meist die Schönheit der Landschaft ganz oben (trotz unseres achtlosen Umgangs damit!). Dabei gäbe es noch Vieles, worauf man stolz sein kann. Vor allem gemeinsame Werte: sozialer Ausgleich, Tradition der Aufklärung, inklusive der Trennung von Kirche und Staat, Gleichheit von Mann und Frau, Kultur (auch wenn sie zuletzt Stiefkind der Politik war) und viel ehrenamtliches Engagement. Der Österreicher ist ein geselliger „Vereinsmeier“. Aber halt, ist das nicht schon wieder ein Klischee, das im multikulturellen Österreich passé ist? Wir haben eine Geschichte als Vielvölkerstaat. Wien war und ist international (mit allen Sonnen- und Schattenseiten). Die Österreicher sind auch eines der reiselustigsten (weil reichen) Völker. Das merkt man in Krisenzeiten, in denen Tausende zurückgeholt werden müssen.

Vielfalt positiv leben, eine gemeinsame Identität entwickeln und den drohenden Abstieg verhindern: Das sind die großen Zukunftsherausforderungen für das neuerdings so oft zitierte „Team Österreich“: vom Kleinwalsertal bis nach Wien, für die „neuen“ Österreicher genauso, wie für die Alteingesessenen. Hoffentlich schafft diese Krise Verbindendes. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie die Kluft vergrößert.

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