Nehammers Reise in den Krieg
Martin Gebhart
10.04.22, 17:55Als am Samstag die ersten gemeinsamen Bilder von Bundeskanzler Karl Nehammer und dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij in den sozialen Netzwerken auftauchten, hatten Kritiker auch sofort ihre Klassifizierung für dieses Treffen in Kiew parat: Die Reise in das Kriegsgebiet sei bloß eine Inszenierung, mehr nicht.
Dieser eingelernte Politreflex mag ja oft seine Berechtigung haben, in diesem Fall aber sicherlich nicht. Kein Regierungschef fährt derzeit nur für ein Foto in seinem Politalbum in den schwer bewachten Präsidentenpalast in Kiew. Dazu steht zuviel auf dem Spiel. Gerade für einen österreichischen Kanzler ist es wegen der Neutralität eine gefährliche Gratwanderung (siehe Leitartikel von Martina Salomon im KURIER vom 9. April), sowohl außenpolitisch als auch innenpolitisch. So ein hohes Risiko nimmt man nicht so einfach in Kauf.
Am Sonntag folgte dann die große Überraschung, die dem Bundeskanzler bis dahin niemand zugetraut hätte. Nach Wolodimir Selenskij trifft Karl Nehammer nun auch Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Am Montag um 15 Uhr ist dieses Gespräch in Moskau angesetzt. Nehammer ist damit der erste westliche Regierungschef, den Russlands Machthaber seit dem Ausbruch des Ukrainekrieges an sich heranlässt. Alle, die Nehammer wegen seiner Kiew-Reise ganz rasch abgeurteilt hatten, müssen sich jetzt wohl ein wenig zurücknehmen. Der Besuch bei Putin war nämlich bereits zu jenem Zeitpunkt eingetaktet, als der Kanzler mit Selenskij im Präsidentenpalast am Besprechungstisch gesessen war. Da ging es schon um Botschaften, die übermittelt werden könnten. Das erklärt auch, warum Selenskij bei der anschließenden Pressekonferenz keinerlei Kritik äußerte, als Fragen zum österreichischen Nein zu einem Gasembargo gegen Russland aufgeworfen worden waren.
Dass jegliche Besuchsdiplomatie kein österreichischer Alleingang ist, hat Nehammer vor seinem Treffen mit Selenskij bereits klargemacht (zu diesem Zeitpunkt aber noch ohne jeglichen Hinweis auf Putin). Alles sei mit der Gemeinschaft abgesprochen, hatte der Kanzler erklärt, wobei er explizit die EU-Spitze und den deutschen Kanzler Olaf Scholz nannte. Diese werden auch jetzt gespannt darauf warten, welche Botschaften ihr Kollege aus Moskau mitbringen wird.
Es ist ein historischer Moment, dass Österreich in diese Vermittlerrolle gelangt oder vielleicht auch gedrängt worden ist. Das relativiert die Neutralitätsdebatte im eigenen Land, weil uns die Version „militärisch neutral, moralisch aber nicht“, die der Kanzler von allen Politikern im Hinblick auf den Ukrainekrieg bis jetzt am konsequentesten verfolgt hat, nicht geschadet hat. Im Gegenteil: Wir sind plötzlich wieder mittendrin statt nur dabei.
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