Finnland, Schweden und die Schweiz haben sie aber eher erfüllt. Wir haben uns jahrelang in der Vermittlerrolle zwischen Ost und West gefallen. Und nun bietet sich ausgerechnet Ungarn als neutraler Boden für Friedensverhandlungen an. Der österreichische Kanzler hingegen ist auf dem Weg nach Kiew. Ein Besuch in Moskau (um beide Seiten zu betrachten und vielleicht sogar zu vermitteln), ist nicht geplant – und wäre wohl auch sinnlos. Staatschefs mit größerem Gewicht wie etwa der Franzose Macron klagen über stundenlange Gespräche mit Putin, die nur von Zynismus geprägt seien.
Nehammers gefährlicher Besuch ist ein nachvollziehbarer Akt der Solidarität mit der Ukraine, dennoch extrem heikel. Nach der Ausweisung von vier russischen Diplomaten diese Woche gab es neuerlich scharfe Reaktionen aus Moskau. Allein ein (noch unwahrscheinlicher) Stopp von Gaslieferungen aus Russland würde Österreich mehr treffen, als jedes andere EU-Land. Es könnte ja auch – umgekehrt – ein EU-Embargo von russischem Gas kommen. Geht unsere Solidarität mit der Ukraine so weit, dass wir im allerschlimmsten Fall in einen Krieg hineingezogen werden und im zweitschlimmsten Fall stillgelegte Industrieanlagen mit Engpässen bei allen möglichen Waren, Massenarbeitslosigkeit und soziale Unruhen in Kauf nehmen müssen? Da handelt es sich ja nicht nur um ein Grad weniger beheizte Wohnungen.
Eigentlich hätte Österreich der Ukraine durch sein Beispiel zeigen können, dass militärische Neutralität mit europäischen Werten und einer engen wirtschaftlichen Verflechtung gut vereinbar ist. Auch Südtirol beweist eindrucksvoll, dass eine Autonomielösung zum Erfolgsmodell für alle Beteiligten werden kann.
Doch Österreich hat die bewaffnete Neutralität – nach Schweizer Muster – selbst nie ganz ernst genommen. Wir empfanden sie lediglich als Garant, dass uns eh alle lieb haben, Wien daher ein großartiger Konferenzstandort ist und sich im Falle des Falles schon jemand anderer um die Verteidigung des Landes kümmern werde. Dass diese dramatische Situation tatsächlich eintritt, ist Gott sei Dank noch immer unrealistisch. Durch den russischen Überfall ist dennoch unsere europäische Illusion eines gemütlichen, pazifistischen Wohlstandskontinents, der die „Friedensdividende“ kassiert, geplatzt. Das wird uns in nächster Zeit buchstäblich teuer zu stehen kommen. Eine Debatte darüber, wie unsere militärische Neutralität heutzutage definiert sein sollte, ist seit vielen Jahrzehnten überfällig. Sie aber womöglich ausgerechnet jetzt zu opfern, wäre der völlig falsche Moment.
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