In einschlägigen Kreisen werden die RKI-Protokolle bereits als „Sieg der Wahrheit“ bejubelt. Doch wer deren Veröffentlichung als Erfolg gegen die „politische Bevormundung“ feiert, dokumentiert damit vor allem eines: Er oder sie hat wenig bis gar kein Interesse daran, wie Politik in Krisen wirklich funktioniert.
Na selbstverständlich wird in Krisenstäben diskutiert und gestritten! Alles andere wäre geradezu bizarr. Bei Lawinenunglücken, im Hochwasser und erst recht in einer Pandemie geht es um den Schutz von Menschenleben. Ein Geologe oder eine Virologin schauen anders auf die Welt als Experten für Massenpsychologie, Soldaten oder eine Bürgermeisterin. Aber genau darum geht es in Krisenstäben: Um viele Meinungen, um ein umfassendes Bild.
Und selbstverständlich sind sich heutige alle vernunftbegabten Beobachter einig, dass in der Corona-Krise in Berlin und Wien kommunikationsmäßig so einiges daneben gegangen ist. Der überzogenen „Jeder wird jemanden kennen“-Satz des früheren Kanzlers war einer von diesen rhetorischen Patzern.
Der Punkt ist nur: All das wird ja gar nicht abgestritten, es ist keine (journalistische) Sensation oder enthüllenswert.
Vor Monaten schon hat die Akademie der Wissenschaften eine Fülle an Fehlern benannt, die der Bundesregierung in der Pandemie unterlaufen sind. Man kann das in ihrem 200 Seiten-Bericht nachlesen – oder einfach den KURIER zurate ziehen. Und erst vergangene Woche hat Ex-Gesundheitsminister Anschober festgehalten, dass Begriffe wie die „Pandemie der Ungeimpften“ ein Missgriff waren.
Wer im Sommer 2024 trotz allem überzeugt bleibt, die Politik hätte in der Pandemie ganz andere Absichten verfolgt, als Menschenleben zu retten, der sollte es mit einer Lebensweisheit versuchen, die man als „Hanlons Rasiermesser“ kennt. Freundlich formuliert, kann man sie so zusammenfassen: Erkläre nicht mit Bösartigkeit, was durch fehlendes Wissen oder Torheit erklärbar ist.
Im echten Leben funktioniert Hanlons Rasiermesser ganz ausgezeichnet. Warum also nicht in der Politik?
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