Kurz wagt sich auf neues Gelände

Kurz wagt sich auf neues Gelände
Der Kanzler kündigte auf dem ÖVP-Parteitag einen Reform-Herbst an. Er will das heiße Eisen Arbeitsmarkt anfassen..
Daniela Kittner

Daniela Kittner

„Er nimmt den Parteitag sehr ernst“, hat ein Kanzler-Vertrauter vor einigen Tagen dem KURIER erzählt.

Und tatsächlich – die ÖVP-Spitzen haben am Samstag in St. Pölten alle Register gezogen, um Sebastian Kurz ein Jubel-Ergebnis als Parteichef zu bescheren: Da wurden Freund-Feind-Schemata ausgepackt, an den Zusammenhalt appelliert, Dankbarkeit für Wahlsiege eingefordert, der Kanzler als märtyrerhaftes Opfer einer außer Rand und Band geratenen Opposition präsentiert. So viel Aufwand weist doch auf eine gewisse Verunsicherung der ÖVP-Führung im Vorfeld des Parteitags hin – jedes Prozentpünktchen unter dem Ergebnis von 2017 hätte als Haarriss im System Kurz verstanden werden können.

Wenn man die vier Jahre bis zum letzten Parteitag im September 2017 zurückblickt, ist ja tatsächlich einiges passiert. Zwar hat Kurz die Erwartungen seiner Partei erfüllt, indem er das Kanzleramt eroberte und bei allen anderen Wahlen für positiven Rückenwind sorgte. Aber inzwischen sind seine Schattenseiten sogar für ÖVP-Delegierte erkennbar geworden: Hinter dem freundlichen Gesicht kam der beinharte Machtpolitiker zum Vorschein, der von der Bischofskonferenz bis zum Staatsanwalt keinen Widerspruch duldet; und der von seiner Gefolgschaft verlangt, ihm millimetergenau auf einem Rechtskurs zu folgen, auch wenn es einem den christlichsozialen Magen umdreht.

Die Delegierten haben’s ihm zu 99,4 Prozent verziehen.

Abgesehen vom Innenleben der ÖVP waren die inhaltlichen Ansagen des Bundeskanzlers auf dem Parteitag aufschlussreich. Sebastian Kurz will sich im Herbst offensiv dem Thema Arbeitsmarkt und Arbeitseinkommen widmen.

Das ist vermintes Gelände. Hier stoßen die Interessen einer alten ÖVP-Klientel auf die Interessen neuer Kurz-Wähler: Die der Arbeitgeber, denen die Arbeitskräfte ausgehen, auf die von Arbeitnehmern in oft schlechten und unterbezahlten Jobs. „Wir werden einfordern, dass jeder, der arbeiten kann, arbeiten geht“, sagt Kurz. Das klingt zwar einleuchtend, ist aber in realen Lebenssituationen nicht immer so simpel umsetzbar und könnte viele verärgern.

Bisher hat Kurz aus Sorge, wie einst Wolfgang Schüssel als Kanzler der sozialen Kälte abgewählt zu werden, Eingriffe in den Sozial- und Pensionsbereich vermieden. Nun scheint Kurz doch zupacken zu wollen, und das wird wohl ebenso für Spannungen mit dem grünen Koalitionspartner sorgen wie das zweite große Herbstthema: die ökologische Wende.

Nach Ibiza und Pandemie scheint Kurz eine neue Phase einzuleiten und erstmals Reformpolitik zu machen. Reformstau („Österreich ist abgesandelt“) war ja der tiefere Grund, warum die große Koalition 2017 verendete. Zeit wär’s ja, den losen Faden wieder aufzunehmen.

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Daniela Kittner

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