Eine Analyse zum Barça-Debakel

Michael Hufnagl

Michael Hufnagl

Der Aficionado, der jedes (!) Spiel gesehen hat, weiß wie es dazu kommen konnte.

von Michael Hufnagl

über den heurigen Niedergang des FC Barcelona.

Es hat weh getan. Wer seit über 25 Jahren sein Fußball-Herz an den FC Barcelona verloren hat und sich seit einiger Zeit an den Erfolg der vielleicht besten Mannschaft aller Zeiten gewöhnt hat (drei Titel in der Champions League in sechs Saisonen), der empfindet das 0:7 gegen Bayern München als bitterste Erfahrung seit dem historischen Finaldebakel gegen Milan (0:4 im Jahr 1994). Aber in gleichem Maße weiß der Aficionado, der jedes (!) Spiel gesehen hat, wie es dazu kommen konnte. Und dass so mancher Hohn zum Ende einer Ära, so manche Analyse zur Wachablöse Richtung Deutschland verfrüht sein könnte. Vier Gründe für den heurigen Niedergang des FC Barcelona. Eine Aufarbeitung.

1. Die Abwehr

Eine Mannschaft, die sich so sehr auf ihre gewaltige Offensive, auf ihren Ballbesitz, auf ihre Tormaschinerie verlassen kann, vernachlässigt geradezu zwangsläufig die Entwicklung ihrer Defensive. Weil sie die meiste Zeit gar nicht notwendig erscheint. Und wenn Barca vor lauter Übermut tatsächlich einmal vier Gegentore kassiert (wie in der Meisterschaft in La Coruna), dann schießt das Dreamteam eben fünf und gewinnt erst recht wieder. Nur: Was geschieht, wenn das Werk'l plötzlich (zum Beispiel wegen der Gründe 3 und 4) nicht mehr so läuft? Wenn ein Plan B mit einer überragenden Abwehr erforderlich wäre? Dann passiert, was passiert ist. Dann verpasst Bayern dem gesamten Planungsstab des FC Barcelona die Höchststrafe. Dann rächt sich fehlende Personalpolitik. Bayern hat vier erstklassige Innenverteidiger (Dante, Boateng, Van Buyten, Badstuber) und kann es sich leisten, dass einer davon verletzt für längere Zeit ausfällt. Barcelona hat zwei, nur bei freundlichster Betrachtung drei (Pique, Puyol, Mascherano), und kann es sich ganz sicher nicht leisten, dass nur einer davon fit ist. Daher ist Improvisation gefragt. Und die mag funktionieren, wenn die Offensive ihre gewohnte Arbeit macht. Wenn nicht, wird jeder Freistoß, jeder Eckball, zu einer extremen Gefahr. Zumal das Mittelfeld ein kollektives Nach-hinten-Arbeiten nicht im Geringsten automatisiert hat. Zumal auch die beiden Außenverteidiger Alba und Alves zu klein sind, um im Luftkampf eine Rolle zu spielen. In München waren die Tore zum 0:1 und 0:2 die Folge von verlorenen Kopfballduellen. Jeweils nach Eckbällen. Kein Wunder, dass jetzt plötzlich Alarmstimmung herrscht und z.B. ein Name wie Hummels auf der Transferwunschliste auftaucht.

2. Die Gegner

Natürlich ist es eine Frage der Zeit, ehe starke Mannschaften taktische Rezepte gegen das System Barcelona finden. Real etwa musste sich lange Zeit in den Clasicos abwatschen lassen, ehe Jose Mourinho wirksame Konzepte gegen den Kurzpass-Furor erfand (6 Duelle, vier Siege, zwei Remis in dieser Saison). Und auch Bayern wusste ganz genau, was zu tun war (Pressing, hoch verteidigen). Dennoch braucht es schon überragende spielerische Qualität, um Barcelona in zwei Spielen letztendlich wirklich auszuhebeln. Milan war dafür nicht gut genug. Bayern sehr wohl.

3. Der Trainer

Eine Analyse zum Barça-Debakel
Vilanova wurde nur 45 Jahre alt

Möglicherweise der entscheidende Faktor. Vilanova war der Co-Trainer von Guardiola. Er hat das System der Mannschaft und die Charaktere der Spieler verinnerlicht. Er war der absolute Wunschkandidat aller Akteure. Und ein Rückblick beweist: Barcelona startete so gut wie nie zuvor in eine Saison. Keine Rede von Zäsur, von satten Stars, von einem Schrei nach neuen Reizen. Im Gegenteil. Nach 19 Runden hatte Barcelona 55 von 57 Punkten, also 18 Siege in 19 Spielen. 64 Tore schossen die Superstars (im Schnitt mehr als drei pro Spiel). Sie kassierten zwar auch 20, aber wen kümmert das bei so einem effektiven Angriffsgeist (siehe Punkt 1)? Barcelona führte souverän die Tabelle an und qualifizierte sich auch locker als Gruppensieger für die K.o-Runde der Champions League.

Aber dann erkrankte Tito Vilanova. Der Ohrspeicheldrüsenkrebs (der im Mai des Vorjahres für geheilt erklärt worden war) kehrte zurück. Ein Schock für alle. Vilanova musste operiert werden und sich einer Chemotherapie in New York unterziehen. In Barcelona stand plötzlich die Frage nach einem neuen Trainer im Raum. Aber Präsident und Spieler entschieden: Wir sind ein Team und wir gehen mit Vilanova. Auch dann, wenn es uns möglicherweise Konzentration und Titel kostet. Menschlichkeit statt Erfolg um jeden Preis. Dreieinhalb Monate fehlte Vilanova. Ein Gedanke sei daher an dieser Stelle erlaubt: Stünde Bayern München im Finale der Champions League, wäre der Architekt des Teams, der Leitwolf, das Mastermind, Jupp Heynckes von Mitte Dezember bis Ende März wegen einer lebensbedrohlichen Krankheit weder bei den Trainings noch bei den Matches anwesend gewesen? Hätte Dortmund das Potenzial gehabt, eine halbe Saison ohne den Übervater Jürgen Klopp auf diesem Niveau zu spielen? Schwer vorstellbar. Von Barcelona haben das alle erwartet, weil die Leidensgeschichte niemals als Argument ins Spiel gebracht worden war.

Aber die Leistungskurve gibt ohnedies die Antworten. Die Leichtigkeit ging ab Mitte Jänner mehr und mehr verloren (Vilanova startete seine Strahlentherapie am 21. Jänner, nahezu gleichzeitig verlor Barca erstmals – 2:3 bei Sociedad). Die Spiele wurden schlechter, die Punkteverluste mehrten sich, die Stars wirkten leer. Gegen Real flog Barcelona aus dem Cup, und auch in der Champions League war Krampf allgegenwärtig. Das grausame 0:2 in Mailand war ein Spiegelbild der Situation. Das 4:0 war einem überragenden Messi, dessen Genie den längst fehlenden Glanz kaschierte, zu verdanken. Auch das 2:2 in Paris war eine schwache Partie. Und im Rückspiel schien wieder das Ausscheiden Realität, wenn nicht einmal noch der eingewechselte Messi das Ruder herumgerissen hätte. Aber nicht mehr zu übersehen war: Dieses Barcelona ist in seinem Selbstverständnis schwer angeschlagen.

4. Lionel Messi

Alle Experten, die sagen, ohne ihn sei der FC Barcelona nur halb so gut, haben wohl recht. Aber welche Mannschaft der Welt würde nicht ihr ganzes System auf einen Spieler wie Messi auslegen? Er ist in seiner Funktion als Fußballgenie so einzigartig, dass wohl jeder Trainer der Welt ihn zum Herzstück seines Arrangements mache würde. 44 Tore in 30 Ligaspielen – Messi erzielte die Hälfte aller Barca-Tore. Und von der anderen Hälfte bereitete er zahlreiche Treffer vor. In einem Verbund von Spielern, mit denen er gemeinsam (in La Masia) groß geworden ist, die ihn kennen, ihn spüren, ihn und seine Kunst zur Entfaltung bringen. Heißt aber: So sehr eine Mannschaft von so einem Ausnahmefußballer profitiert, so sehr er im Alleingang Spiele kippen und entscheiden kann, so sehr er für jeden Gegner eine immerwährende gefährlichen Unbekannte darstellt – so sehr fehlt er eben, wenn er nicht dabei ist. Das war in den vergangenen Jahren dankenswerterweise kaum je der Fall, folglich konnte sich Barcelona auch dank seines magischen Flohs zur „besten Mannschaft der Welt“ entwickeln. Gegen Bayern war ausgerechnet er, der vierfache Weltfußballer des Jahres, nicht fit. Aber im Unterschied zu allen anderen ist Lionel Messi unverzichtbar. Vor allem gegen ein Bayern München, das in diesem Jahr wohl nur dann besiegt werden kann, wenn alles zusammenpasst. Davon war Barcelona weit entfernt. Das Ergebnis ist bekannt.

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