Verantwortung abgeben führt zu Volksverblödung

Martina Salomon

Martina Salomon

Es macht das Zusammenleben einfacher, wenn Menschen Verantwortung übernehmen.

von Dr. Martina Salomon

über Verantwortung

Eine erst am Freitag aufgetauchte Meldung macht betroffen: Am Stefanitag war ein 58-jähriger Mann nachts fünf Stunden lang in einer Aufzugskabine in der Wiener U-Bahn-Station Volkstheater gelegen, bis endlich eine Reinigungskraft die Rettung verständigte. Der Mann hatte einen Herzinfarkt erlitten. Er starb am Weg ins Spital. Wie hätten Sie reagiert? Gar nicht, so wie viele Passanten, die im Lift sogar über den Sterbenden stiegen?

Wir leben in einer Gesellschaft, wo "Verantwortung übernehmen" als spießig gilt. Wer sich zum Beispiel in der Straßenbahn nach einem weggeworfenen Gratis-Blatt bückt, um es in den Mist zu befördern, fällt schon als verhaltensoriginell auf. Dementsprechend vermüllt sind viele öffentliche Plätze. Wer Türen rücksichtsvoll schließt, anderen höflich den Vortritt lässt, den "Tschick" nicht einfach aus dem Autofenster schnippt, gar "Bitte" und "Danke" sagt, gilt als antiquiert. Mittlerweile muss man den Bürgern banale Regeln des Zusammenlebens via Lautsprecher erklären: etwa, dass man U-Bahn-Passagiere zuerst aussteigen lässt, bevor man einsteigt. Das, was Europäer in den USA immer als Zeichen der Volksverblödung empfanden, kommt nun mit kleiner Zeitverzögerung zu uns: Amerikaner lieben Hinweise auf eigentlich Selbstverständliches. Dass man die Hände nach dem Klogang waschen sollte. Und dass Plastiksackerl, wenn man sie isst oder sich über den Kopf stülpt, lebensgefährlich sein können.

Auch hierzulande gleiten wir in Überbevormundung ab. So erfand die Gemeinde Wien den sprechenden Mistkübel, der traurig auf das Hundegackerl am Gehsteig schaut. Das versteht auch die wachsende Zahl der Analphabeten in der Stadt. Zumindest einzelne Buchstaben lesen können sollte man bei der neuen Allergenverordnung. Statt dass jenes eine Prozent der wirklich von Allergien Betroffenen mit dem Wirt redet, was sie gefahrlos essen können, müssen nun alle Kunden über alle möglichen allergenen Stoffe informiert werden. Das verhindert wechselnde Speisekarten und fördert einheitliche Industrienahrung (da isst man "sicher"). Das Vorschriftenkorsett wird enger. Man darf das Denken an den Staat delegieren. Kein Wunder, dass auch Manager kaum noch Entscheidungen ohne Personalberatung und absichernde Gutachten treffen wollen, man könnte ja in den Mühlen der Gerichtsbarkeit landen.

In der Politik wiederum gibt man die Schuld an unliebsamen Entwicklungen gern nach oben weiter: die Landespolitik an die Bundespolitik, die Bundespolitik an die EU. Das hat dazu geführt, dass Letztere als fernes Bürokratiemonster gilt, das unser Leben verkompliziert. Hätte aber zum Beispiel das EU-Verbot von Landeshaftungen für Banken-Anleihen nicht erst 2007 gegriffen, hätte wir uns eine Menge Geld für das Hypo-Desaster erspart.

Gerade in einer Gesellschaft, die unter "Dichte-Stress" leidet, ist die Verlockung groß, sich um nichts und niemanden mehr zu kümmern. Doch es macht das Zusammenleben einfacher und menschlicher, wenn Menschen Verantwortung übernehmen: für sich und für andere.

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