Von "ooooh" bis "huidibuidi"
Reden wir bitte später, weil ich will jetzt keinen Streit.
Sie
Bitte, ich weiß was: Ein Ball braucht im Falle eines Elfmeters exakt 400 Millisekunden bis zum Tor. Ich weiß noch was: Dass ein Ballgenie wie Cristiano Ronaldo torwartunabhängig schießt. Und bitte, das kann ich auch erklären: Torwartunabhängig zu elfmetern bedeutet, dass sich der Schütze vorher exakt überlegt, wo er den Ball platziert – unabhängig von der Bewegung des Goalies. Ehrlich: Ich würde viel geben, könnte ich das Gesicht des Mannes nebenan sehen, wenn er diese Zeilen liest. Seine Mimik wird vermutlich zwischen Erstaunen und Grauen hin- und hermäandern, und er wird sich fragen: Was will sie mir damit sagen? Heißt das, sie interessiert sich jetzt für Fußball?
Balance
Nein, natürlich nicht. Da bin ich nach wie vor Klischee: Ich, Wesen mit XX-Chromosomensatz, finde Fußball fad. Ich schreibe diesen Satz in Kenntnis der Buhs und Ohhs und Ausrufe wie "Depperte!" Bitte, soll ich lügen? Aber natürlich gibt es in mir auch die Lust auf Homöostase – nach Aufrechterhaltung des Gleichgewichtszustandes. Da unterscheidet mich nichts von der Schnecke oder vom Gorilla. Und deshalb rüste ich mich jetzt schon innerlich für die WM, um unser Beziehungsgleichgewicht nicht im Out zu versenken. Ich versuche, Dinge am Fußball zu entdecken, die ich aufregend finde. Wissenschaft finde ich aufregend, folglich verschlinge ich derzeit alles zum Thema "Fußball und Wissenschaft". Weil ich die Vorstellung, an seiner Seite zu sitzen und sämtliche Feldzüge oberg’scheit zu kommentieren, schon jetzt sehr liebe. Ob das umgekehrt auch so sein wird? Ich vermute, dass er offiziell sagen wird: Toll, Schatz. Während sich eine innere Stimme zum Aufschrei ballt: Bitte. Lass. Diesen. Schwachsinn. An. Mir. Vorüberziehen. Doch, leider: Das Leben ist so unberechenbar wie ein Match. Daher: Brasilien kann kommen!
Er
Ich lebe mittlerweile seit vier Weltmeisterschaften und vier Europameisterschaften an der Seite jener Frau, deren Leidenschaft für Fußball ungefähr so ausgeprägt ist wie mein Interesse am japanischen Stummfilm der 1920er-Jahre. In dieser Zeit fielen in 380 (durchwegs bedeutenden) Spielen 939 Tore, von denen ich 939 Tore gesehen habe. Wenngleich auch nur ungefähr 899 live. Sie indes nahm nur ein einziges Tor bewusst wahr, und das war der Elfer von Ivica Vastic zum 1:1 gegen Polen bei der Euro 2008. Und das nur, weil sie zufällig anwesend war, um mich zu fragen: "Hast du die Nagelschere irgendwo gesehen?" Meine Antwort war "Jaaaaaaaaaa!!!!" Denn der so wichtige Treffer fiel ja erst in der 93. Minute. Weshalb auch sie sich ganz spontan mitfreute – "na huidibuidi".
Flugeigenschaft
Ich gestehe aber ehrlicherweise, dass die Zeit der großen Konflikte im Rahmen der Endrunden vorbei ist. Sie hat sich an den Ausnahmezustand gewöhnt und beschäftigt sich still (was genau sie tut, weiß ich nicht), und ich habe auch eine Art Kompromissbereitschaft entwickelt. Heißt: Bei einigen Matches dieser WM, wie Ecuador gegen Honduras oder Südkorea gegen Algerien, begnüge ich mich mit Zusammenfassungen. Damit wir auch Zeit zum Reden ("Bestellen wir beim Italiener oder beim Chinesen?") haben. Umso irritierter bin ich, dass meine Frau plötzlich aus einem gut eingespielten Nebeneinander plötzlich ein Miteinander machen will. Und wenn sie etwas tut, dann stets gewissenhaft. Also ist sie als Dozentin ("die Flugeigenschaft des Brazuca wurde übrigens im Vergleich zum Jabulani deutlich stabilisiert") kaum zu stoppen. Ein besonders perfider Plan. Und so habe ich ihr mit dem Unterton der Drohung mitgeteilt: "Schatz, seit ich dich kennengelernt habe, gab es bei WM und EM 105 rote Karten." Aber sie antwortete nur: "Weiß ich eh."
Twitter:@MHufnagl
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