Der böse Fehltritt
Hufnagl ist, was er sonst eher nicht so ist: beflissen, hilfsbereit und treuherzig.
Sie
Man sah dem Arzt an, was er sich dachte. Dass die Frau, die versuchte, würdevoll zu sitzen, nur deshalb zwei Hämatome am Steiß hatte, weil sie ein Schwipserl über die Treppe fallen ließ. Die Frau bin ich, und nein, Herr Doktor: Ich bin deprimierend nüchtern beim Verlassen meiner Wirkstätte gestolpert und auf dem Popsch gelandet. Das schmerzt. So sehr, dass der Mann nebenan mich so nimmt, wie ich derzeit bin: Unwirsch, unfrisiert, wütend. Auf mich, die Treppe und das Schmerzgedächtnis meines Hinterns. Hufnagl ist, was er sonst eher nicht so ist: beflissen, hilfsbereit und treuherzig. Das geht so weit, dass er sich für mich bückt, für mich einkauft, denkt, kocht und sogar journalistisch tätig ist. Ich sage hiermit offiziell: Danke, dass es dich gibt.
Supperl, du Arme?
Dennoch gibt es „Too-much-Anteilnahme“. Zu viel des Bedauerns, des „Mei, du Arme“. Das hat zur Folge, dass ich reden muss, obwohl ich still-heroisch meine Blessur verhecheln möchte. Weil der Mann nebenan findet, ich sehe blass aus, fragt er mich, warum ich so blass aussehe. Weil er hört, wie ich ächze, stürzt er herbei, um mir beim Ächzen zuzusehen. Mit schreckgeweiteten Augen, die mir das Gefühl geben, ein Familienpackung gewordenes Weh zu sein. Und dann die Fragen: Magst ein Supperl? Supperl ist gut. Willst du es mit diesem Polster probieren? Der ist weich. Hast du es mit einem Coldpack versucht? Das könnte beruhigen. Wann glaubst du, wird das besser? Zu Weihnachten? Was hat der Arzt gesagt? Warum heißt das Steißbein Steißbein? Oder (bei Ansicht meiner Röntgenbilder): Jö, das sieht aus wie der Schwanz von Mimi (unser Hund). Ich verstehe, dass er Anteil nimmt. Aber das tun alle, samt Gute-Ratschläge-Paket. Also überlege ich ein tägliches Bulletin als Hinternlist – mit Befindlichkeitsstatus und Fotos des Hämatoms in den Farben der möglichen großen Koalition.
Er
Vorweg: Sie ist arm. Also richtig arm. Denn sobald trotz Schmerzmitteln kaum eine Bewegung mehr möglich ist, ohne dass sie ihre Wangen aufbläht und ihre Augen zu Sehschlitzen werden lässt, dann ändert sich schlagartig alles. Dann hat sie mein Mitgefühl und kann sich meiner Unterstützung sicher sein. Diese aber besteht nicht nur darin, den eigenen Kompetenzbereich im Alltag auf das Maximalausmaß zu erhöhen und 93-mal am Tag „Lass’ nur, ich mach’ schon“ zu sagen. Nicht nur darin, jedes Ächzen voller Anteilnahme zu kommentieren – „mah, du Unglücksrabe“ oder „Ich wollte, ich könnte mehr für dich tun“. Nein, sie besteht auch aus dem allerwichtigsten Aspekt auf dem Weg zur vollständigen Genesung: dem Zuhören.
Stakkato
Denn in gleichem Maße, wie der Helfende gelegentlich zur mühsamen Beflissenheit neigt, merkt die zu Umsorgende nicht, wie ebenso anstrengend permanentes Mitteilungsbedürfnis sein kann. Im Falle meiner Frau ist das jedoch nicht nur das übliche Befindlichkeitsstakkato (wie geschlafen, wo tut’s besonders weh, wie rot war das Hämatom gestern, wie blau ist das Hämatom heute, wie schwarz wird das Hämatom morgen sein, gibt es ein Leben nach dem Hämatom?). Oh nein! Sie ist außerdem noch Großmeisterin der Analyse. Heißt: Sie betreibt ab dem dritten Tag Ursachenforschung. Welcher seelische Motor hat ihr wohl den Fehltritt befohlen? Und wie stellt sich ihre Treppenausrutsch-Disposition dar, im Spiegel jener Gewissheit, dass die Ururgroßmutter Zeit ihres Lebens überlieferte vier Mal auf der Kellerstiege verunglückte (ehe sie irgendwann an Herzversagen starb). Da ist Frau Kuhn als Erforscherin ihrer selbst sehr fantasievoll. Denn ein simples Missgeschick ist völlig ausgeschlossen. Wie auch ein Widerspruch meinerseits. Mein Nicken ist also gut für die Heilung. Die Popo-Witze müssen noch warten.
Twitter: @MHufnagl
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