Wenn „Türkis“ das Aufbrechen dieser – für die Partei tendenziell letalen – Logik bedeutet, dann muss Nehammer, wenn er einigermaßen bei Sinnen ist, „türkis“ bleiben (wenngleich natürlich vor der „türkisen“ schon der „schwarzen“ ÖVP rund zwei Jahrzehnte früher mit Wolfgang Schüssel ein ähnlicher Aufbruch gelungen ist).
Eine Emanzipation von „Türkis“ ist Nehammer indes in zwei anderen Bereichen durchaus anzuraten. Zum einen mit Blick auf eine gewisse personelle Breite der Partei: Kurz hat wohl zu sehr nur auf seinen inner circle gesetzt, auf Leute, die ihm bedingungslos ergeben waren, und zu wenig darauf geachtet, für alle politischen Kernbereiche – z. B. Justiz!! – auch wirklich inhaltliche Schwergewichte um sich zu scharen. Natürlich gab es auch im Kurz-Team gute Leute, aber da blieben doch Wünsche offen.
Wichtiger aber noch: Es stimmt zwar nicht, wie es jetzt allenthalben heißt, dass Kurz keine inhaltliche Substanz hatte und rein umfragengesteuert agiert hätte. Er hatte sehr wohl eine politische Mitte-Rechts-Agenda. Aber dennoch täte der Partei ein gutes Stück programmatischer Selbstvergewisserung gut. Nehammer hat in seiner Antrittsrede bereits die Trias von Freiheit, Verantwortung und Solidarität angesprochen. Das kann man in Entsprechung zu den drei begrifflichen Eckpfeilern liberal, konservativ und christlich-sozial sehen, zwischen denen die ÖVP aufgespannt ist und auch sein muss.
Nehammer hat dabei allerdings fast ausschließlich von der Pandemie gesprochen. Das ist aus der aktuellen Situation heraus zwar verständlich, aber langfristig wird er das auch für alle anderen Politikfelder durchbuchstabieren müssen. Nur mit einem klar umrissenen Bild von Mensch und Gesellschaft kann die Partei selbstbewusst einen Führungsanspruch formulieren. Ohne dieses große Ganze ist alles andere nichts.
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