Hut ab vor Christian Wehrschütz!
Erster März 2022. Ich atme auf, als KURIER-Fotograph Jürg Christandl und ich den Fluss Dnepr überqueren. Nach fünf Tagen Beschuss, Gefechten, Toten in der Stadt Charkiw war für uns klar: Wir müssen die Möglichkeit annehmen, die Stadt, die 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt ist, zu verlassen. In einigen Momenten hatten wir einfach nur Glück, zu überleben. Etwa einfach nur deshalb, weil wir uns dagegen entschieden hatten, noch einmal auf den Hauptplatz der Stadt zu fahren. Genau dort schlug zehn Minuten nach unserer Entscheidung ein Marschflugkörper ein.
Als wir am nächsten Tag weiter gen Wien fuhren, hörten wir, dass Christian Wehrschütz doch in Kiew – beziehungsweise in der Umgebung der Stadt - bleiben werde. Einer Stadt, die zu diesem Zeitpunkt ebenso wie Charkiw bombardiert, beschossen und belagert wurde. "Respekt!", fuhr es mir durch den Kopf. Und ja, auch eine gewisse Portion Scham. Er blieb, wir fuhren heim. Kamen in Wien an, fuhren acht Monate später wieder an die Front. All diese Zeit war Wehrschütz in der Ukraine, berichtete, analysierte. Und tut das bis heute.
Es gibt keinen anderen österreichischen Journalisten, der ansatzweise über Wehrschütz‘ Expertise verfügt. Kaum jemanden hat die Ukraine zwischen 2015 und 2022 interessiert. Der absolute Großteil jener scheinbaren Öffentlichkeit, die sich jetzt über diesen einen Fehler von Christian Wehrschütz empört, konnte bis zum 24. Februar 2022 nicht ein Mitglied der ukrainischen Regierung aufzählen, geschweige denn einen Leopard 2A7 von einem T-90 unterscheiden. Wehrschütz ist mit diesem Raum seit Jahren vertraut. In der medialen Öffentlichkeit hingegen spielte die Ukraine in diesem Zeitraum keine Rolle.
Er hat ein falsches Video geteilt. Wie viele vermeintliche Wahrheiten des "Britischen Geheimdienstes" schaffen es Tag für Tag ungeprüft in die Ticker aller Medien? Auch wenn sie mit den Tatsachen herzlich wenig zu tun haben, beziehungsweise für die Ukraine nachteilige Ereignisse ausblenden. Das ist Fakt. Sind es deshalb Falschmeldungen oder ist es nur "die richtige Information"? Fakt ist auch, dass es in diesem Krieg um die Deutungshoheit geht. Dass es um die Beeinflussung der öffentlichen Meinung geht.
Ebenso wie russische Propaganda Fakt ist – und das seit Jahren. Es hat sich infolgedessen im Ukraine-Krieg – wie es in der heutigen Zeit scheinbar immer sein muss – ein absolutes Schwarz-Weiß-Denken etabliert. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Das mag in vielerlei kulturellen Debatten mitunter unterhaltsam sein – im Krieg hat das nichts verloren. Dieses Thema ist dafür zu ernst.
Als ich aus der Ukraine zurückkam, waren die Meldungen voll von Traktoren, die russische Panzer abschleppten. Die Ukraine werde schon gewinnen, hieß es. Ein Narrativ, das sich bisweilen bewahrheitete – etwa als sich Russland aus dem Norden des Landes zurückzog. Und bei der erfolgreichen Gegenoffensive im September 2022. Dennoch spielen die Zeit und die halbherzige Unterstützung des Westens insgesamt für die Russen.
Ich persönlich war und bin vom ukrainischen Wehrwillen überwältigt. Egal mit wem ich damals sprach – man war Feuer und Flamme, sein Land zu verteidigen. Und tat es. In beeindruckender Art und Weise. Dieser Wille hält zu einem großen Teil an. Aber war nie bei allen vorhanden – und ist dennoch ungleich höher als jener in Österreich. Wie viele Mitbürger im Ernstfall Haus und Hof verkaufen würden, um unser Land nicht verteidigen zu müssen, will man sich nicht vorstellen. Gut, die Tweets aus anderen Ländern dazu wären uns dann auch egal.
Genauso wie Christian Wehrschütz die Bekundungen diverser "Kämpfer" in den sozialen Medien egal sein dürften. Das ist der virtuelle Raum, in dem sich jeder zum Verteidiger von irgendwas aufschwingt. Wo man es vom Corona-Experten, über den Afghanistan- Doyen bis hin zum General bringen kann. Und das innerhalb von wenigen Wochen.
Wer aber seit Jahren in der Ukraine und seit Jahrzehnten in Osteuropa recherchiert, berichtet, sein Leben riskiert, ist Christian Wehrschütz. Ein Mann, vor dem man als Journalist nur seinen Hut ziehen kann. Er macht sich mit keiner Sache gemein. Auch nicht mit einer guten. Er ist vor Ort, er recherchiert. Das ist sein Auftrag. Und diesen führt er seit Jahrzehnten gewissenhaft aus.
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