Höchstrichter ist kein Nebenjob
Wurde bei einer Wahl getrickst – und muss sie wiederholt werden? Haben die Lockdowns Grundrechte verletzt? Und was ist mit der Adoption von Kindern? Soll man sie auch gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglichen?
Es sind richtungsweisende Fragen, die der Verfassungsgerichtshof bearbeitet. Er ist das Grundrechtsgericht schlechthin und entscheidet bis zu 5.000 Fälle im Jahr.
So gesehen sollte man annehmen: Das Richterdasein am VfGH ist nicht nur fordernd, sondern auch ein Fulltime-Job.
Es ist anders.
Im Unterschied zu nahezu allen vergleichbaren Gerichtshöfen der Welt dürfen Verfassungsrichter hierzulande ihren Job als Uni-Professor, Rechtsanwalt oder „normaler“ Richter weiter ausüben.
Seit Jahren führt dieser „Nebenerwerb“ zu Problemen und Konflikten.
Der „Klassiker“: Ein VfGH-Richter muss sich bei einem Verfahren für befangen erklären, weil er in seinem „Zweitjob“ als Anwalt Mandanten vertritt, die mit diesem Verfahren irgendwie zu tun haben.
Wie groß das Problem ist, zeigt Christoph Grabenwarter: Für gewöhnlich bei öffentlichen Auftritten ausnehmend zurückhaltend, plädiert der Präsident des Verfassungsgerichtshofes in Interviews nunmehr offen dafür, die Nebenjobs der Kollegen ernsthaft zu hinterfragen.
Tatsächlich lassen sich im Jahr 2023 kaum noch belastbare Argumente dafür finden, warum Richter am Verfassungsgerichtshof nebenbei einen weiteren Brotjob haben müssen.
Die materielle Sicherheit kann’s nicht sein: Verfassungsrichter werden per Gesetz wie Staatssekretäre entlohnt (derzeit mehr als 15.000 Euro monatlich). Ihr Job ist de facto unkündbar – und läuft fast bis zum 70. Geburtstag.
Das häufigste Argument, warum Verfassungsrichter auch weiterhin als Rechtsanwälte arbeiten sollen, ist die viel zitierte Praxis. Anders gesagt: Der Gerichtshof profitiere davon, wenn Menschen aus dem „echten Leben“ Expertise einbringen.
Die Crux dabei: Folgt man dieser Argumentation, müsste man das gesamte Justiz-System hinterfragen. Auch Strafrichter oder Staatsanwältinnen arbeiten nicht nebenher in juristischen Zweit-Jobs. Und trotzdem würde bei den gerade Genannten kaum jemand auf die Idee kommen, sie hätten zu wenig Ahnung, was sich jenseits der Gerichtssäle in diesem Land wirklich abspielt.
In Wahrheit ist die Sache einfach: Da auf absehbare Zeit kein VfGH-Richter zu bestellen ist, sollte die Politik das offene Zeitfenster nutzen, in aller Ruhe eine behutsame Reform der Regeln andenken – und dies auch erledigen.
Der VfGH würde profitieren. Und politisch zu argumentieren wäre die Sache allemal. Wer über Verfassung und Grundrechte wacht, darf das nicht im Nebenjob tun.
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