Väterlichkeit: Heraus aus dem Wahrnehmungsloch
Kinderpsychiater John Bowlby postulierte in den 1950er-Jahren, dass für den Aufbau einer stabilen Bindung die Beziehung des Kindes zu einer zentralen Bindungsperson notwendig sei, und meinte damit im Wesentlichen jene zur Mutter. Bereits in den frühen 1960er-Jahren wurde die These widerlegt. Kinder können bereits in den ersten Lebensjahren gleichwertige Bindungen zu verschiedenen Personen, also auch zu ihren Vätern, aufbauen. Entscheidend sei dabei nicht die zeitliche Dimension, sondern die Qualität des Fürsorgeverhaltens. Diese Botschaft entging jahrzehntelang der allgemeinen Wahrnehmung. Zudem war für die Forschung fast nur das Bindungsverhalten des Kindes zur Mutter von Interesse. In den letzten beiden Jahrzehnten wurde auch die Rolle von Vätern unter die Lupe genommen, mit beachtlichen Ergebnissen. Studien zufolge beeinflusst väterliches Engagement bereits vorgeburtlich die Bindung zum Kind. Bereits im Bauch reagieren Kinder signifikant auf väterliche Zuwendung. Mit der Geburt sinkt bei Vätern der Testosteronspiegel und das Oxytocin und sogar das Prolaktin im Blut steigen zeitgleich mit dem väterlichen Engagement an.
Ist bei Müttern vieles biologisch angelegt, benötigt es bei Vätern deren Engagement. Eine von der EU-Kommission veröffentlichte Studie weist auf 3- bis 6-faches Engagement aktueller Väter gegenüber ihren eigenen Vätern hin. Zeit mit Kindern und die Beschäftigung mit ihnen ist Vätern ein großes Anliegen geworden.
Liselotte Ahnert stellt im Buch „Auf die Väter kommt es an“ Ergebnisse des Forschungsteams CENOF vor. Den Studien zufolge wirkt sich väterliches Spielverhalten positiv auf das Sozialverhalten von Kindern aus, indem es deren Empathiefähigkeit fördert. Auch auf Sprachentwicklung, Stressverarbeitung und Motorik wirkt sich aktives Tun von Vätern positiv aus. Kinder können mit Vätern besser eigene Grenzen ausloten, bauen ängstliches Verhalten ab. Väter spielen mit ihnen Regelspiele, laut Ahnert insofern „besser“, indem sie Regelverstöße besser sanktionieren und die Kinder somit lernen, wie sie besser mit Niederlagen umgehen können. Väter trauen ihren Kindern mehr zu, fordern und fördern sie dadurch stärker.
Leben die Eltern zusammen, erhalten Kinder die Förderung ganz selbstverständlich von beiden Elternteilen. Mit einer Trennung wird väterliches Engagement of auf vier Tage pro Monat reduziert und geht vielfach ganz verloren. Die Doppelresidenz, also die Fortsetzung eines gleichwertigen Engagements beider Elternteile (in vielen Ländern bereits die Norm), bleibt unseren Kindern oft vorenthalten. Der gesellschaftliche Wahrnehmungsfokus richtet sich auf „toxische Männlichkeit“, also auf eine kleine Minderheit. Das Gros der Väter und deren positiver Einfluss auf ihre Kinder bleibt weiterhin in einem Wahrnehmungsloch. Aus diesem holt sie auch kein Vatertag.
Anton Pototschnig ist Sozialarbeiter, Familiencoach und Obmann der Plattform „Wir Väter“
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