Leitkultur-Debatte: Was uns als Gesellschaft wertvoll ist
Man macht es sich zu leicht, wenn man die Debatte ins Lächerliche zieht und auf die Verehrung der Blasmusik verengt.
Sprachlich (lat.: colere=pflegen) geht es darum, welche Art und Weise des Zusammenlebens wir auf jenem winzigen Teil der Erdkugel pflegen – und pflegen wollen –, auf dem der Staat Österreich besteht. Sie ist eng mit der Diskussion über gemeinsame Werte verbunden, womit bezeichnet wird, was uns wertvoll ist.
Hier ist vieles offen: Es wäre wohl zu wenig, eine österreichische Leitkultur auf unbestimmte Floskeln der Weltoffenheit („wir sind Kosmopoliten“) oder simple Individualität (und sei es im Gewand eines formalen Pluralitätsverständnisses „jeder nach seiner Art“) zu reduzieren; auch ist klar, dass eine österreichische Leitkultur ungeachtet allfälliger Besonderheiten in europäische kulturelle Grundlagen eingebettet ist; und schließlich darf nicht übersehen werden, dass kulturell begriffene Besonderheiten auch innerhalb unseres Gemeinwesens vielfach regional und nach sozialen Milieus hochdifferenziert sind.
Dessen ungeachtet sollte die Frage nach der Leitkultur nicht als sinnlos oder gar als reaktionär-nationalistisch beiseitegeschoben werden, weil sie zur Überlegung zwingt, was uns als Bewohner des Staates Österreich gemeinsam ist. Für mich geht es nicht darum, eine bestimmte Lebensweise einer anderen unterzuordnen, sondern um einen Nachdenkprozess zur Überprüfung des Gemeinsamen:
Eint uns mehr als eine heute an Realitätsverweigerung grenzende Beschwörung der Neutralität oder eine heute oft an Klientelismus gemahnende Sozialpartnerschaft? Sind die Facetten österreichischer Geschichte und Lebensweise, die beispielsweise in der Bundeshymne genannt werden, tatsächlich kulturell aussagekräftig und akzeptiert, oder durch den „Söhne/Töchter“-Streit überlagert?
Rechtlich fragwürdig ist die Sicht, dass ohnedies alles in der Verfassung gesagt sei: Die Grundrechte regeln das Verhältnis des Staates zu den Bürgern und finden in die Beziehungen der Bürger zueinander nur indirekt verdünnt Eingang, beispielsweise zur Beurteilung, ob ein Verhalten sittenwidrig ist. Vielleicht eint uns aber doch mehr als die Ablehnung sittenwidrigen Verhaltens?
Ein Leitkulturprozess steht auch nicht in Konkurrenz zum Gesetzgeber, sondern kann eine Chance für die Demokratie sein, weil sie jene „Voraussetzungen eines freiheitlich säkularisierten Staates reflektiert, die dieser selbst nicht garantieren kann“ (so das berühmte Böckenförde-Diktum 1964.)
Die Entwicklung von Leitbildern ist in Unternehmen heute selbstverständliches Instrument der Vergewisserung gemeinsamer Werte und Ziele. Ich sehe eine Diskussion über eine Leitkultur als Chance zur Reflexion darüber, was für uns als österreichische Gesellschaft wertvoll ist. Führen wir die Debatte konstruktiv – wir könnten entdecken, was für den Zusammenhalt der Gesellschaft wichtig ist!
Wolfgang Mazal ist Professor für Arbeits- und Sozialrecht sowie Leiter des Instituts für Familienforschung an der Uni Wien; Mitglied des Expertenrats für Integration bei BM Raab.
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