Leitkultur-Debatte: Was hält uns künftig zusammen?
Bereits 1998 hatte der Sozialwissenschaftler Bassam Tibi („Europa ohne Identität?“) eine verbindliche europäische Leitkultur eingefordert. Von politischer Seite wurde der Begriff in der Folge praktisch ausschließlich als christlich-abendländische Leitkultur begriffen.
Jenen, die hier angeblich nicht dazu gehören, richtete Ministerin Raab am 28. März aus, dass vieles, das in anderen, also „deren“ Ländern erlaubt sei, in Österreich verboten wäre. Dazu gehöre etwa Genitalverstümmelung und Zwangsverheiratung oder antisemitische Äußerungen – so die Ministerin.
Bereits diese Aufzählung ist irreführend. So ist in den meisten afrikanischen Staaten Genitalverstümmelung explizit untersagt. Dass gesetzliche Verbote und gesellschaftliche Realität unterschiedliche Ebenen sind, beweisen demgegenüber auch in Österreich die hohe Anzahl an Femiziden oder das (Männer-)Problem der häuslichen Gewalt. Und auch der Antisemitismus war und ist kein reines Importprodukt.
Ebenso steht hinter stolzen Nationalsymbolen und Narrativen in der Regel auch eine Geschichte von kriegerischen Auseinandersetzungen und Leid der Zivilbevölkerung. Zu den Paradoxien dieses nationalen Erbes gehört nicht zuletzt jenes Gesetz, welches bereits 1912 den Islam auch rechtlich als Teil des modernen Europas anerkannte, aber genauso Ergebnis der (kolonialen) Besetzung und schließlich Annexion Bosniens war.
Schlussendlich ist auch zur Kenntnis zu nehmen, dass sich in absehbarer Zeit wohl nur mehr eine Minderheit der Bevölkerung in Österreich zur katholischen Kirche bekennen wird – vor allem aufgrund des starken Anstiegs der Konfessionslosen. Doch worauf kann sich ein moderner gesellschaftlicher Konsens gründen?
Heinz Fischer hat vor rund 20 Jahren den Begriff des „Verfassungspatriotismus“ in die Debatte eingeworfen – konkret im Kontext der (kaum umgesetzten) Arbeit des Österreichkonvents für eine Verfassungsreform. Ein Konzept, welches eine Gemeinschaft von Menschen nicht ethnisch-kulturell, sondern bewusst gewollt, durch gemeinsame Rechte und eine gemeinsame bürger-gesellschaftliche Praxis definiert, wäre als Ansatz geeignet, eine entsprechende Bindekraft zu entwickeln.
Genau darüber sollte debattiert werden: Welche Veränderungen braucht es im Staatsbürgerschafts-, Wahl- oder Sozialrecht, um den Anforderungen der heutigen (Migrations-)Gesellschaft zu entsprechen und alle „ins Boot“ zu holen? Wie kann die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern in der Praxis tatsächlich verwirklicht werden? Wie schaffen wir mehr Bildungsgerechtigkeit? Aber auch: Wie nutzen wir z.B. die Ressource der zunehmenden Mehr- und Vielsprachigkeit in unserer Gesellschaft?
Die politischen Akteure sind heuer durch die Wählenden u.a. genau an diesen Punkten in ihrer Lösungskompetenz zu bewerten.
John Evers ist Generalsekretär des Verbandes österreichischer Volkshochschulen.
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