Einspruch, Herr Schüssel!

Altbundeskanzler Wolfgang Schüssel kritisierte u.a. mangelnden EU-Bürokratieabbau unter Kommissionschefin Ursula von der Leyen
Die Kritikpunkte des Altkanzlers zur EU auf dem Prüfstand. Ein Gastkommentar von Stefan Brocza.

Kürzlich konnte man Aussagen von Wolfgang Schüssel zur EU nachlesen, die einer näheren Überprüfung nicht standhalten. Im Rahmen einer Podiumsdiskussion war von einer angeblichen Überregulierung durch die EU die Rede und dass die meisten Beschlüsse an den EU-Institutionen vorbei fielen. Zudem schlug der Altbundeskanzler noch vor, man möge doch bei der Bildung der nächsten EU-Kommission einfach den Bereich Außenpolitik auf mehrere Kommissare aufteilen.

Dass Letzteres nicht möglich ist, zeigt ein Blick in die EU-Verträge: Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wird vom Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und den EU-Mitgliedstaaten ausgeführt. Von einer Zuständigkeit der EU-Kommission findet sich nichts im EU-Recht. Schüssel erinnert sich wohl an seine Zeit in den 1990ern – da gab es tatsächlich vereinzelt EU-Kommissare, die etwa für Lateinamerika zuständig waren. Doch das ist längst Geschichte.

Einspruch, Herr Schüssel!

Stefan Brocza

Was sich nicht geändert hat, ist die Art und Weise, wie in der EU Gesetze beschlossen werden. Die Kommission macht einen Vorschlag und Rat (also die Mitgliedstaaten) und das EU-Parlament müssen sich auf einen gemeinsamen Text einigen. Dies kann in einer ersten oder zweiten Lesung geschehen. Einigt man sich nicht, muss ein Vermittlungsausschuss einberufen werden. Einigt man sich dort, wird der Rechtsakt angenommen, kommt es zu keiner Einigung, ist das Gesetzesvorhaben gescheitert.

Das Vermittlungsverfahren nennt man Trilog (weil eben Kommission, Rat und Parlament teilnehmen). Erstaunlicherweise hat seit der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2006 unter Schüssel bis heute kein einziges EU-Land wieder so oft dieses Vermittlungsverfahren zur Einigung gebraucht: Bei 13 Prozent seiner Beschlüsse wurde der Trilog zur Einigung benötigt.

Vielleicht war auch diese Erfahrung der Grund dafür, warum man 2007 in einer Gemeinsamen Erklärung festschrieb, dass man bereits während erster und zweiter Lesung informelle Triloge durchführen könne. Seither passieren Beschlüsse schneller und früher. Es sind aber immer noch Rat und Parlament, die dies tun. An ihnen vorbei passiert da gar nichts.

Schließlich zur Überbürokratisierung: Die Gesamtzahl der jährlichen EU-Rechtsakte ist seit 2006 zwar um rund ein Drittel gestiegen und betrug im Vorjahr 2340. Dabei handelt es sich vielfach um Durchführungsbeschlüsse. Die Zahl neuer Gesetze nimmt jedoch kontinuierlich ab. 2023 wurden so nur insgesamt 70 Verordnungen und Richtlinien im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens angenommen. Das sind 16 Prozent weniger als im Jahr 2006.

Diese offensichtlichen europapolitischen Wahrnehmungsprobleme mögen vielleicht tiefenpsychologisch erklärbar sein. Inhaltlich war jedenfalls Vieles davon falsch.
 

Stefan Brocza ist Experte für Europarecht und internationale Beziehungen.

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