Die europäische Perspektive der Ukraine

Die europäische Perspektive der Ukraine
Ein Kandidatenstatus wäre eine wichtige politische Geste. Der Prozess ist ohnehin ergebnisoffen – siehe Türkei

Die EU-Verträge sind klar formuliert. Jedes europäische Land, das die europäischen Werte achtet, kann eine EU-Mitgliedschaft beantragen. Die Ukraine hat ihr Beitrittsansuchen Ende Februar gestellt und die EU-Kommission wird ihre Bewertung schon im Juni den Mitgliedstaaten übermitteln.

Diese müssten dann einstimmig über den nächsten Schritt entscheiden, den Kandidatenstatus. In einer dramatischen Situation, in der sich die Ukraine mit allen Kräften gegen die russische Militärinvasion stemmt und schließlich auch die europäische Sicherheit verteidigt, ringt das Land um jede Art der Unterstützung. Der Beitrittsantrag ist dabei ein weiteres Zeichen, dass sich das Land als Teil Europas fühlt.

Die Ukraine ist unser Nachbar und ein Mitglied der europäischen Familie. Jede Annäherung an die EU, im Rahmen des bestehenden Assoziierungsabkommens und darüber hinaus, ist daher zu begrüßen.

Ein Kandidatenstatus wäre jetzt vor allem eine weitere politische Geste. Eine Abkürzung zur etwaigen EU-Mitgliedschaft oder ein Versprechen in diese Richtung wäre er nicht. EU-Erweiterungsverhandlungen mit der Ukraine wären in der aktuellen Situation auch nur schwer vorstellbar und schon vor diesem furchtbaren Krieg war der Reformstau enorm, das BIP pro Kopf entsprach etwa der Hälfte von jenem Bulgariens, dem ärmsten Land der Union.

Übrigens wurden Beitrittsverhandlungen schon bisher stets ergebnisoffen geführt und waren nicht immer von Erfolg gekrönt, wovon etwa die Türkei ein Lied singen kann.

Darüber hinaus sind die Länder des Westbalkans ebenfalls in der EU-Warteschleife. Deren Reformfortschritte sind zwar von Land zu Land verschieden, aber trotzdem eher durchwachsen. Auch deswegen sind allfällige weitere EU-Beitritte alles andere als in Stein gemeißelt und liegen womöglich in weiter Ferne. Eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine ist, so ehrlich muss man sein, aktuell und in näherer Zukunft daher unrealistisch.

Sie wäre eine Überforderung beider Seiten, denn auch die Fähigkeit der Union derzeit weitere Länder aufzunehmen, ist wohl enden wollend. Etwaige Vertragsveränderungen, wie sie der französische Staatschef unlängst wieder thematisiert hat und auch im Regierungsabkommen der Ampelkoalition in Berlin Erwähnung finden, würden diesen Prozess nicht unbedingt beschleunigen. Letztlich ist es – zumindest gegenwärtig – europäische Fiktion, alle Länder aufnehmen zu können, die den Anspruch erheben, dafür bereit zu sein.

Hier jetzt falsche Erwartungen zu wecken, führt vor allem zu zukünftigen Enttäuschungen. Viel wichtiger wäre es, allen potenziellen EU-Beitrittsaspiranten handfeste und unmittelbar realisierbare Integrationsschritte auf diesem Weg anzubieten, sei es durch ein Upgrade der bestehenden Abkommen oder ein Vorziehen so mancher Integrationsvorteile. Selbst wenn es nie zu einem EU-Beitritt kommen sollte – und wer weiß schon, was die Zukunft bringt – eine konkrete und ehrliche europäische Perspektive hat das Land jedenfalls verdient.

Paul Schmidt ist Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik.

 

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