Der europäische Wirtschaftsmotor stottert

Der europäische Wirtschaftsmotor stottert
Von einem Kontinent, der auszieht, das Wachstum wieder zu finden.

Wir müssen reden. Europa – Wiege der industriellen Revolution und des damit verbundenen Wirtschaftswachstums – hat ein Problem. Ja, 3,3 Prozent Wachstum in der EU im Jahr 2022 nach 5,4 Prozent im Jahr 2021 hört sich zunächst einmal recht positiv an. Zwei so starke Jahre hintereinander hatte die EU seit ihrem Bestehen noch nie. Doch war da nicht etwas vor zwei Jahren?

Richtig, im Zuge der Corona-Krise ist unsere Wirtschaftsleistung massiv gesunken. Trotz des guten Vorjahres betrug das Wachstum in der EU seit 2019 gerade einmal 2,7 Prozent. Besonders schwach entwickelten sich die Schwergewichte Frankreich, Italien und Deutschland. Das in der Inflationsbekämpfung fälschlicherweise idealisierte Spanien hat seit 2019 gar eingebüßt. Andere Weltregionen entwickelten sich deutlich besser. Die USA konnten gegenüber 2019 stärker zulegen als die EU. Von den großen Wachstumsregionen China und Indien ganz zu schweigen.

Der Krieg in der Ukraine war eine der Wachstumsbremsen, mit denen wir in Europa zuletzt konfrontiert wurden – von den grauenvollen humanitären Folgen des Kriegs einmal ganz abgesehen. Doch selbst ohne den Krieg wäre Europa vor große Herausforderungen gestellt. Wie soll es mit dem europäischen Industriestandort im Zuge der grünen Transformation weitergehen?

Arbeitskräftemangel

Man muss aber gar nicht erst so weit denken. Der Standort Europa steht heute schon vor veritablen Problemen. Stichwort Arbeitskräftemangel. Derzeit gibt jedes vierte Industrieunternehmen an, dass seine Produktion wegen Mangels an Arbeitskräften behindert ist. WKÖ-Präsident Harald Mahrer präsentierte vor wenigen Tagen eine Studie, der zufolge sich in Österreich bis 2040 eine Lücke von 363.000 Arbeitskräften auftue.

Die politische Diskussion scheint von diesem Problem völlig losgelöst zu sein. Beinahe wöchentlich liest man neue Vorschläge, die Arbeitszeit in Österreich zu reduzieren. Das mag für einzelne Unternehmen attraktiv sein, um neue Angestellte zu finden. Doch den Branchen als Ganzes wird damit ein Bärendienst erwiesen. Wir müssten uns wieder Gedanken machen, wie in Österreich und dem Rest Europas mehr Arbeitsstunden geleistet werden könnten, statt weniger.

In nur zwei anderen EU-Ländern muss ein Durchschnittsverdiener mehr an den Fiskus abtreten. Durch eine Abgabensenkung könnte Arbeiten in Österreich und dem Rest Europas wieder attraktiver gemacht werden. Auch darüber hinaus sollte es keine Denkverbote geben. Wie können wir arbeitswilligen Pensionisten die Möglichkeit geben, weiterhin am Wirtschaftsleben teilzunehmen, ohne dass sie über Gebühr besteuert werden? Nicht nur der Staat, sondern auch Unternehmen müssen ihr Verhalten ändern. So sind Arbeitnehmer über 55 wertvolle Arbeitskräfte mit einem Schatz an Erfahrung, der genutzt werden sollte. So könnte ein Grundstein für das Wachstum der kommenden Jahrzehnte gelegt werden.

Marcell Göttert ist Ökonom und Mitarbeiter des marktliberalen Thinktanks Agenda Austria

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