Als die Politik nach der Technik griff
Am 1. Oktober 1924 nahm die „Muttergesellschaft“ des ORF, die Radio-Verkehrs AG (RAVAG), erstmals in Österreich ihren regelmäßigen Sendebetrieb auf. Bereits seit April 1923 gab es zwar unregelmäßig die ersten Radiosendungen und vereinte eine kleine, doch stets wachsende Schar von Radioamateuren im politisch zerstrittenen und wirtschaftlich darniederliegenden Österreich. Jede Initiative, die die Menschen ihre katastrophale Situation kurzzeitig vergessen ließ, war willkommen.
Mit primitiven Geräten, die zumindest heute so erscheinen, wurden ab Herbst 1924 vom Dachfoyer des Heeresministeriums am Wiener Stubenring die ersten regelmäßigen Sendungen ausgestrahlt. Dreimal in der Woche, jeweils von 18.45 bis 20 Uhr. Der christlichsoziale Bundeskanzler Ignaz Seipel hatte Heeresminister Carl Vaugoin überzeugen können, einige Räume in seinem Ministerium zur Verfügung zu stellen. Fortan war eine riesige Antenne am Dach des Ministeriums aufgepflanzt.
Die politischen Parteien, die Bundesregierung und Wiener Gemeindeverwaltung zögerten keinen Augenblick, den Wert dieses neuen Mediums für ihre Zwecke zu nützen. Für kurze Zeit zogen sogar die verfeindeten Lager bei der Etablierung der RAVAG zusammen an einem Strang.
Erste Machtkämpfe
Am 1. Oktober 1924 sprach Bundeskanzler Seipel als erster Politiker im Rundfunk und wandte sich sogleich staatsmännisch an den Völkerbund. Gemäß der damaligen Machtverhältnisse folgte dann der Wiener Bürgermeister Karl Seitz von den Sozialdemokraten.
Doch die anfängliche Harmonie verwandelte sich in kurzer Zeit in einen Machtkampf um das hochpolitische Medium Radio. Nach den Statuten der RAVAG war die Besprechung von Angelegenheiten, die „im Mittelpunkt parteipolitischer Erörterungen“ standen, aber auch „kulturpolitische Streitfragen“ unzulässig.
Ideologische Bühne
Schon um die Jahreswende 1924/25 eskalierte im Exekutivkomitee der RAVAG die Situation zwischen „rot“ und „schwarz“. Parteivertreter durften laut Statut im Gegensatz zu Regierungsvertretern nicht in Sendungen auftreten. Folglich war für die Sozialdemokraten die „Stunde der Arbeiterkammer“, eigentlich als Beratungssendung gedacht, eine Bühne, die plötzlich zu einer hochideologischen Propagandasendung umgestaltet wurde.
Die Christlichsozialen gründeten daraufhin eine „christlichdeutsche Radiobewegung“, die schließlich als „Österreichischer Radiobund“ im Beirat der RAVAG aufgenommen wurde. Freilich war dies erst möglich, als im Gegenzug wiederum eine sozialdemokratische Organisation ebenfalls im Beirat mit Sitz und Stimme vertreten war. Gewissermaßen rote und schwarze „Freundeskreise“, die jedes Wort des Gegners „belauschten“ und – wenn nötig – Beschwerde führten. Das ist manchen Sitzungen im heutigen ORF-Stiftungsrat nicht unähnlich.
Erste Reform
Bereits wenige Jahre nach Gründung der RAVAG wurde eine „generelle Reform des Beirates“ gefordert. Um die Zusammensetzung der neun Beiratsmitglieder wurde polemisiert und öffentlich gerungen.
Die regelmäßigen Dispute der 1920er-Jahre entluden sich an ideologischen Kulturfragen. Etwa als die Sozialdemokraten gegen die Übertragung der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach zur Osterzeit opponierten. Oder als die Christlichsozialen den Wunsch äußerten, dass nach Ende der Sendungsübertragung – wie in fast ganz Europa üblich – die österreichische Bundeshymne gespielt werden sollte. Die sozialdemokratischen Vertreter im RAVAG-Beirat protestierten noch 1930 heftig dagegen und sahen darin eine „Beleidigung Deutschlands“.
Kampfzone
So bildete der Rundfunk bereits in der Frühphase eine Kampfzone österreichischer Innenpolitik, die die politische Eskalation nicht versachlichte, sondern entschieden verstärkte. Dass die RAVAG zehn Jahre nach ihrer Gründung – im Juli 1934 als einer der zentralen Orte des NS-Putsches – in einen speziellen Fokus geriet und die Auseinandersetzung hier sogar Todesopfer forderte, machte ihre Relevanz dennoch mehr als deutlich.
Johannes Schönner ist Zeithistoriker und Geschäftsführer des ÖVP-nahen Karl von Vogelsang-Instituts
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