Die US-Demokratie vom Altar holen

Es mag ja ein paar Jahrhunderte her sein, dass aus Europa abgeschobene religiöse Fundamentalisten – etwa auf der legendären Mayflower – auf dem Gebiet der USA strandeten. Ihren religiösen Charakter aber hat die Führungsnation der westlichen Welt nicht verloren. Das äußert sich nicht nur in dem bis heute großen Anteil braver Kirchgänger an der Bevölkerung, sondern auch in dem von religiösen Motiven geprägten Umgang mit ganz weltlichen Dingen wie dem Staat und seinen Institutionen.
In „God’s own country“ ruht die Demokratie auf einer Verfassung, deren Status dem von kirchlichen Dogmen ähnelt. Hier nur einen Absatz zu verändern, gilt als Frevel. Nicht umsonst berufen sich Waffenfanatiker auf einen Verfassungszusatz, der sich, als er vor mehr als 220 Jahren geschrieben wurde, mit bewaffneten Milizen beschäftigte, die für Ordnung im damals noch recht wilden Westen sorgen sollten.
Der Stellungskrieg dürfte sich weiter verschärfen
Ob es nun das Zeremoniell der Präsidentschaftswahlen ist, das zwischen der Stimmabgabe der Bürger und der Entscheidung über das neue Staatsoberhaupt eine riskante Lücke lässt, die Sitzverteilung im US-Senat, die menschenleeren Bundesstaaten gleich viel Platz einräumt wie etwa Kalifornien, oder der Föderalismus, der einzelnen Bundesstaaten das Recht gibt, sich über Grundsatzentscheidungen in Washington hinwegzusetzen: Es sind unzählige Bausteine der US-Demokratie, über deren Reform es sich zu diskutieren lohnte.
Die US-Gesetzgebung leidet seit vielen Jahren an den ständigen Blockaden im Kongress. Mit der Affäre um die von Joe Biden irgendwo verräumten Geheimpapiere aus dem Weißen Haus dürfte sich der Stellungskrieg dort weiter verschärfen. Dass die Republikaner, die den gerade ausrufen, inzwischen so gespalten sind, dass sie sich und mit ihnen den US-Kongress lahmlegen, haben wir gerade erst bei der Wahl des Sprechers im Repräsentantenhaus erlebt.
Nicht nur die Handlungsfähigkeit der US-Demokratie leidet unter solchen Zuständen, auch ihr Ansehen bei der Bevölkerung. Der Sturm der Trump-Anhänger auf das Kapitol war nur das drastischste Beispiel für die Entfremdung vieler Amerikaner vom politischen Washington, das sie nur noch als ihren Feind betrachten.
Eine Demokratiereform auch nur zu diskutieren, wagt man in den USA bestenfalls an Universitäten und Denkfabriken. Der „Leuchtturm der Demokratie“, als den sich die USA verstehen, bleibt also baufällig, Restaurierung nicht geplant. Schließlich haben sich viele politische Entscheidungsträger darin recht bequem eingerichtet. Viele der ausgetüftelten Schachzüge auf dieser Bühne dienen nicht dem Bürger, sondern allein dem politischen Überleben im Washingtoner Alltag. Aber mit diesem Problem sind die USA wohl nicht allein.

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