Der Präsident der Zeitenwende

Alexander Van der Bellen
Van der Bellens nachdenkliche, professorale Art vermittelt Ruhe im Sturm. Und die Stürme haben sich noch nicht gelegt.
Daniela Kittner

Daniela Kittner

Über die Rekordzahl von Angelobungen, die Bundespräsident Alexander Van der Bellen vornehmen musste, wird allerorts gewitzelt, ein Geübt-ist-er-ja-schon-Scherzchen können wir uns also angesichts seiner Wiederkandidatur verkneifen.

 

Die vielen Wechsel in Regierungsämtern haben ja auch einen ernsten Hintergrund. Sie sind ein Signal dafür, dass die stabilen, halbwegs berechenbaren Verhältnisse in der heimischen Innenpolitik vorerst der Vergangenheit angehören. Van der Bellens Vorgänger Heinz Fischer ist noch damit über die Runden gekommen, immer wieder Große Koalitionen aus SPÖ und ÖVP zu zimmern. Aber mit diesem Automatismus ist es vorbei, die Innenpolitik ist zum Experimentierfeld geworden, Van der Bellen ein Bundespräsident der Zeitenwende.

Als solcher hat er sich recht gut geschlagen. Seine nachdenkliche, professorale Art ist dazu angetan, Ruhe im Sturm zu vermitteln. Auf die Idee, am Höhepunkt der Polit-Schlacht um Sebastian Kurz die Schönheit eines langweiligen Verfassungstexts zu preisen, muss man erst einmal kommen.

Ein ungeplanter Glücksfall war es, in der Pandemie einen Wissenschafter als Staatsoberhaupt zu haben. Wer hätte es vor sechs Jahren für möglich gehalten, dass man die Medizin ernstlich gegen Wirrköpfe und Scharlatane verteidigen wird müssen? Auch was die politische Agenda betrifft, passt der grüne Ökonom voll in die Zeit. Der Kampf gegen den Klimawandel nimmt jetzt, angefacht durch den russischen Angriffskrieg, erst richtig Fahrt auf.

Sechs weitere Jahre Van der Bellen, also. Daran gibt es keine Zweifel, bis jetzt wurde noch jeder Bundespräsident wiedergewählt. Darüber hinaus werden ÖVP, SPÖ und Neos auf eigene Kandidaten verzichten. Das erspart dem Land eine Wahlschlacht, was angesichts von Krieg und Corona ein Vorteil ist. Die politische Energie kann so in die Krisenbewältigung fließen.

Gibt es also gar keine Nachteile? Doch. Es ist schade, dass keine starken, parteiunabhängigen Frauen wie einst Gertraud Knoll oder, das letzte Mal, Irmgard Griss kandidieren, die als Personen bestimmte Werte verkörpern. Knoll stand für Mitmenschlichkeit, Griss für Korrektheit. Eine strenge Richterin wäre angesichts der vielen Unterschleife in der Politik eigentlich eine logische Kandidatur.

Oder: Wer repräsentiert das künftige Österreich? Wo ist die Aufsteigerin aus Migrationsmilieu, die mit einer Kandidatur für die Hofburg zeigt, dass Zuwanderer Teil der österreichischen Gesellschaft sind und sein wollen? Aber dafür ist die Zeitenwende vielleicht noch zu wenig weit fortgeschritten. Und einstweilen bleibt uns ja Alexander Van der Bellen erhalten.

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